Eine emotionale Tour de Force durch das Fürsorgesystem der USA – mit einer Protagonistin, die man einfach ins Herz schließen muss.
Naomi ist erst 14, hat aber schon mehr Enttäuschungen und Stress erlebt als die meisten Erwachsenen je erleben werden. Ihr Vater säuft, ihre Mutter hat sich umgebracht. Jetzt kommt sie schon wieder in eine neue Pflegefamilie. Die Goldings. Haben schon zwei Pflegekinder, ist doch immer dasselbe. Doch diesmal kommt alles anders: Colleen und Tony Golding sind schwarz und eigentlich ziemlich cool für Pflegeeltern. Sharyna und Pablo, ihre neuen Geschwister, sind sogar mehr als okay. Nur mit Kim und Nats, ihren Freundinnen, läuft es irgendwie nicht mehr ganz so gut, und langsam muss sich Naomi die Frage stellen, ob sie ihnen noch vertrauen kann.
Alex Wheatle war vor einer Weile mit seinem Buch „Liccle Bit“ gefühlt in aller Munde, doch dieses hat mich damals nicht so sehr angesprochen wie sein neuester Roman, „Home Girl“. Denn im Gegensatz zu einer scheinbar simplen Coming-of-Age-Story geht es hier um viel mehr, nämlich um das Fürsorgesystem in den USA und wie ein junges Mädchen mit den ständigen Enttäuschungen umgeht. Nach den ersten Seiten war ich noch etwas skeptisch, was vor allem mit Naomis Art, sich auszudrücken bzw. ihrer Gedanken („Affe auf Toast!“, „Affe im Rettungsring!“ oder so Ähnlich) zusammenhing. Doch schnell entfaltete Wheatles Roman seinen ganz eigenen Charme und Naomi wuchs mir schnell ans Herz. Nochmal kurz zum Inhalt: „Home Girl“ dreht sich also um Naomis Suche nach der perfekten Pflege- und langfristig auch Adoptivfamilie. Doch irgendetwas läuft immer schief, ob es nun der „Fummel-Vater“ ist oder die überbordende Zärtlichkeit und Zuwendung, die ihr die Mütter zukommen lassen und die sie erdrücken. Naomi ist raue Sitten gewohnt, denn im Pflegeheim (wo sie zwischen den einzelnen „Stationen“ untergebracht ist) geht es nicht immer friedlich zu. Ihre besten „Freundinnen“ (als Beobachter sehe ich das anders als Naomi selbst) Nats und Kim sind im Großen und Ganzen auch nicht besonders förderlich für Naomis Weiterentwicklung. Kim macht ihr alle Pflegefamilien madig und bläst jeden noch so nichtigen Vorfall zu einem Elefanten auf und versucht, Naomi dazu zu bringen, sich bei ihrer Betreuerin zu beschweren, rechtliche Schritte gegen die vermeintlichen „Pädo-Dads“ einzuleiten und wieder ins Heim zu ziehen. Dass das nicht ganz uneigennützig ist, kristallisiert sich im Laufe des Buchs nach und nach heraus. Nats hingegen scheint Naomi nur zu dulden, denn sie hat das Gefühl, dass sie sich zwischen ihre Beziehung mit Kim drängen will. Will Naomi aber gar nicht. Sie sucht nur nach wenigstens ein bisschen Halt zwischen Chaos, Unsicherheit und Enttäuschungen.
Ich bin vierzehn Jahre alt. Meine Zukunft war schon im Arsch, bevor ich überhaupt geboren wurde. Was für ein verkacktes, trauriges Drecksleben Ich hatte. Wenn es wirklich einen Mann oder eine Frau da oben gibt, dann muss er oder sie ganz schnell mal runter auf die Erde kommen und die Gebete junger Menschen wie mir erhören – nicht immer nur auf die von denen, die in ihren besten Klamotten, mit Designerhandtaschen und hübschen Klapperschuhen in die Kirche, in Synagogen und Moscheen gehen. Die brauchen keine scheiß Hilfe.
Man spürt bei der Lektüre richtig, dass der Autor selbst Erfahrungen mit Pflegefamilien gemacht haben muss. Eine kurze Recherche bestätigt dies auch. Ob Alex Wheatle allerdings auch mit solchen „Umständen“ aufwachsen musste, wie er seiner Protagonistin zumutet, weiß ich nicht: Naomis Mutter hat sich umgebracht (sie hat sie tot aufgefunden), ihr Vater ist starker Alkoholiker. Harter Tobak. Naomi wuchs damit auf, sich in ihrem jungen Alter um ihren Vater zu kümmern, anstatt ihre Kindheit zu genießen und „normale Dinge“ zu tun, wie etwa Spielen, Freunde treffen, einfach Spaß haben. In einem Gespräch über dieses Thema sagt sie zu Tony, ihrem neuesten Pflegevater, »Willst du mich verarschen? Wie hätte ich denn normale Sachen machen sollen, ich musste mich doch um meinen Dad kümmern«. Das stimmt alles sehr traurig und wenn man als Leser ihre Vergangenheit betrachtet, sieht man keinen großen Hoffnungsschimmer für Naomi. Doch bei ihrer neuen Pflegefamilie scheint alles besser zu werden, sie wird nicht von Zuneigung erdrückt, der Vater hält sich schön fern von ihr, wenn sie duscht, ihre Pflegegeschwister sind nett zu ihr und generell scheinen die Goldings ein guter Einfluss und ein gutes Umfeld für Naomi zu sein. Sie beginnt, selbstsicherer zu werden, fängt mit Tanzstunden an, findet ein wenig zu sich selbst – bis sie von Kim dazu gebracht wird, Stunk anzuzetteln und mehrmals abzuhauen. Naomi gibt sich auch ruppiger, als sie eigentlich ist, und versucht, möglichst niemanden an sich heranzulassen. Und obwohl sie sich als Charakter im Verlauf des Buches doch stark entwickelt, war ich sehr enttäuscht über das Ende, das sich der Autor für ihre Geschichte überlegt hat.
Fazit: „Home Girl“ liest sich ganz wunderbar, trotz anfänglicher Schwierigkeiten – wenn man erst einmal ein paar Seiten gelesen hat, groovt sich alles ein und man ist mittendrin und fiebert mit Naomi mit. Als Leser wünscht man sich natürlich, dass sie glücklich ist bei den Goldings, dass ihre lange Odyssee ein Ende hat und sie nach einer so harten Kindheit zur Ruhe kommen und endlich einfach Kind sein darf, doch so einfach ist es im Leben leider nicht immer. Naomis vermeintliche Freundinnen machen die Sache nicht einfacher. Dennoch habe ich Naomis Weg von vielen Enttäuschungen, Verletzungen und dem nicht ganz fehlerfreien Fürsorgesystem Amerikas gerne gelesen. Die Suche nach einem Zuhause, einem „Forever Home“, hat mich emotional tief berührt und ich mag eine dicke Leseempfehlung aussprechen!
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Kunstmann Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Home Girl / Alex Wheatle / Kunstmann Verlag / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 280 Seiten / ISBN: 978-3-95614-355-7 / Erschienen am 18.03.20 / zur Verlagsseite