Ein unglaublich gut geschriebenes Buch über die seelische Gewalt, die eine Familie tagtäglich erdulden muss.
TW: Explizite Darstellung seelischer Gewalt
Eine kleine Familie in Paris. Ein scheinbar normales Leben. Sieben Jahre hat die Idylle gehalten. Aurélien hat versprochen, dass er sich ändert. Dann passiert es wieder – an einem Wochenende, das sie mit ihren beiden Kindern fern von Paris in der Normandie verbringen, in dem alten Ferienhaus von Auréliens Großtante. Worte, so scharf und so verletzend wie Rasiermesser. Sie weiß, dass ihm wenig später alles leidtut. Sie weiß, dass ihre Kinder ihren Vater brauchen. Und sie weiß zugleich, dass es so nicht weitergehen kann.
»Pourquoi tu restes?« – Warum bleibst du? – steht auf dem Cover der französischen Ausgabe und selten hat ein Satz ein Buch so treffend zusammengefasst. Es geht um eine Familie, die unter den Wutausbrüchen ihres cholerischen Vaters leidet. Diese sind meist an die namenlose Mutter gerichtet, die mit diesen verbalen Attacken absolut nicht umzugehen weiß. Zurückfeuern wagt sie nicht, also schluckt sie die Beleidungen runter. Lediglich der Notizapp ihres Handys vertraut sie sich an – hier schreibt sie alles nieder, was ihr Mann Aurélien ihr jemals an den Kopf geworfen hat. Auch die Kinder sind immer betroffener von der verbalen Gewalt an ihrer Mutter – Gewalt, die vielleicht nicht äußerlich weh tut, aber der Seele umso mehr Schaden zufügt, wenn man hört, welches Ausmaß die Ausbrüche haben. „Du bist weniger als eine Frau für mich“, sagt Aurélien, „Immer machst du alles kaputt, und jetzt auch Mama!“, sagt die Tochter. Schon einmal hat die Mutter Aurélien verlassen, nachdem dessen Worte sie so immens verletzt haben, und jetzt, sieben Jahre später, nach einer Therapie und vielen Versprechen seitens Aurélien, steht unsere Protagonistin wieder an diesem Punkt: bleiben oder gehen? Sie setzt sich ein Ultimatum – bis zu ihrem Geburtstag Anfang Januar will sie sich entschieden haben. Noch knapp 2 Wochen. Doch eigentlich ist ihr schon von vornherein klar, wie sie sich entscheiden wird. Ihr Mann Aurélien wird während der „Bedenkzeit“ nicht müde, ihr Versprechungen zu machen, zu beteuern, dass er sich bessert, und scheinbar scheint es auch zu gelingen – bis zum nächsten Ausbruch, zur nächsten Explosion. Und diese lassen die guten Tage wertvoller erscheinen, rauben aber auch jegliche Hoffnung auf Besserung. Jedes Mal baut die Protagonistin sich ihre Hoffnung neu auf, wie ein Kartenhaus, das nur darauf wartet, umgeblasen zu werden von schrecklichen Worten.
Er hatte seine Wut endlich im Griff. Also dachtest du, ihr wärt die Gewalt ein für alle Mal los, hättet sie für immer aus eurem Leben verbannt. Du wusstest nicht, dass man sie nie ganz abschütteln kann. Du hattest keine Ahnung, dass sie auf Stand-by bleibt, stumm geschaltet, sich in einem Winkel der Wohnung versteckt, im Schatten oder unter der Fußmatte zusammenkauert, um dann im richtigen Moment umso heftiger wieder aufzuflammen und uns anzuspringen, wenn wir es am wenigsten erwarten.
Eines muss ich vorab sagen: Dieses Buch braucht Trigger-Warnungen! Denn als ich nichtsahnend angefangen habe zu lesen, wurde mir direkt auf Seite 13 mulmig, als die Ausbrüche Auréliens beschrieben wurden, wurde es dann richtig unangenehm. Man fühlt sofort mit der Protagonistin und ihren Kindern mit. Die Erzählweise Cordonniers trägt zudem dazu bei, dass man dies alles liest, als würde es einem selbst passieren – da sie die „Du“-Ansprache verwendet. Ganz besonders möchte ich aber noch die wunderbare Erzählsprache der Autorin hervorheben, denn diese hat die Lektüre zu etwas ganz Besonderem gemacht.
[…] Überall reihst du seine Worte aneinander. Seitenweise Notizen. Hunderte Zeilen hast du mit seinen ganz eigenen Worten voll geschrieben. Um sie zu erfassen, in dem Versuch, sie zu entschärfen, in der kläglichen Hoffnung, dass sie sich anderswo festsetzen als in dir.
Fazit: Jedem, der mit einem solch schwierigen Thema umgehen kann und auch Beschimpfungen böswilligster Art gut wegstecken kann (ich habe extra keines der krasseren Beispiele aufgenommen), sei dieses kurze Büchlein empfohlen! Die tolle Umsetzung dieses Dilemmas – bleiben oder gehen – und diese unfassbar stimmige, poetische Sprache machen mir Lust auf mehr von der Autorin und befördern „Die Entscheidung“ zu einem meiner Jahreshighlights.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom btb Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Amélie Cordonnier / Die Entscheidung / btb Verlag / Taschenbuch, 172 Seiten / ISBN: 978-3-442-77114-1 / Erschienen am 12.07.21 / zur Verlagsseite