Wie fängt man eine Rezension an zu einem Buch, das von niemand anderem als Literaturkoryphäe Haruki Murakami stammt und in heiß erwartet wurde? Ich finde nur schwer Worte – muss es trotzdem aber versuchen:
WORUM ES GEHT
„Sie war 16, ich war 17“ – unser namenloser Protagonist trägt seine erste große Liebe sein Leben lang in sich und kann nicht damit abschließen, da sie einfach von heute auf morgen verschwand. Selbst mit Mitte 40 muss er noch regelmäßig an das Mädchen denken. Kurz bevor sie verschwand, fantasierten die beiden sich eine Stadt zusammen – eine Stadt, umgeben von einer hohen Mauer, in der der Eintritt den eigenen Schatten kostet. Sie glaubt, sie selbst sei nur ein Schatten und ihr wahres Ich sei in dieser Stadt. Anreiz genug für unseren Prota, sich nach dieser Stadt zu verzehren – bis er dann plötzlich dort ist.
»Manchmal komme ich mir vor wie jemandes Schatten […] Mein Ich hier ist nicht mein wahres Ich, mein wahres Ich ist irgendwo anders. Dieses Ich hier sieht auf den ersten Blick aus wie ich, aber in Wirklichkeit ist es nichts weiter als ein Schatten, der auf eine Wand oder den Boden projiziert wird… So stelle ich mir das vor.«
Murakami schafft es wieder einmal, die Lesenden so zu verwirren („Was ist Realität? Was ist nur ein Traum?“), dass man (ich zumindest) erst im letzten Kapitel versteht, was da eigentlich passiert. Bis dahin werden wir von einer sanften Brise durch die Story getragen, die vor Metaphern nur so trieft und Herr Murakami auch sehr dick mit seinem Sprachkitsch aufträgt. Und damit kommen wir zu meinen stilistischen und inhaltlichen KRITIKPUNKTEN (Spoiler-frei):
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Wiederholungen: Man kennt es bereits aus anderen Romanen Murakamis – es werden Sätze, Aussagen und Phrasen zum Teil sehr oft wiederholt („Sie war 16, ich war 17“, „Der Schnee war völlig verharscht“, Prota fragt sich, in welcher Welt er sich befindet). Auch Dinge, die Lesende bereits wissen, werden sicherheitshalber nochmal aufgegriffen und wiederholt.
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Lebenssinn: Der Prota verschläft einfach sein ganzes Leben, indem er sich nach einer Jugendliebe verzehrt – zu einem Mädchen, das er kaum kannte. Diese Art von Hauptfigur kennen wir auch bereits, aber es ist wirklich jedes Mal schade, von so einem verschenkten Leben zu lesen.
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Glaubwürdigkeit: In der Mitte des Romans gibt es einen sehr langen Dialog (fast schon ein Monolog), in dem eine Person die komplette Lebensgeschichte einer anderen Person runterrattert – auch Dinge, die sie nicht wissen dürfte. Dies allein ist schon weird, aber unser Prota und diese Person hatten bis dahin nur ein paar Worte gewechselt, weshalb die gesamte Szene und der Charakterbruch (Person ist sehr verschlossen / Person schießt einen 20 Seiten Monolog heraus) unglaubwürdig wirken. Diesen Bruch gibt es im Laufe des Buchs häufiger: wenn nämlich eine Information als die einzig wahre an die Hauptfigur herangetragen wird, um ein wenig später genau diese komplett zu verwerfen (als hätte Murakami es sich nochmal anders überlegt). Weiterhin erkennt der Prota später im Buch die negativen Aspekte der Stadt, nimmt dies aber nicht für sich an, um sein Sehnen nach ihr nochmal zu überdenken.
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Klammern: Ein kleiner Punkt, der mich nichtsdestotrotz immer wieder gestört hat: Es gibt geklammerten Text in wörtlicher Rede.
»Ja, ich sah es auf den ersten Blick. Dass Sie der Mann waren, der mein Nachfolger in der Bibliothek werden musste. Denn diese Bibliothek ist keine gewöhnliche Bibliothek. Sie ist nicht bloß ein öffentlicher Ort, an dem es viele Bücher gibt. Vor allem ist sie ein besonderer Ort, der verlorene Herzen aufnimmt.«
Puh, das waren dann doch einige Punkte. Dennoch muss ich sagen, dass ich den Roman doch irgendwie gern gelesen habe – auch, wenn sich so viele Symbole/Themen aus Murakamis Werken wiederholt haben (siehe Bingo-Karte weiter unten). Man muss ganz klar sagen, dass DIE STADT UND IHRE UNGEWISSE MAUER nicht Murakamis bestes Werk ist – wenn auch das, was ihm möglicherweise am meisten bedeutet hat. Denn im Nachwort erfahren wir, dass er ganz ähnlich dem Prota im Buch vierzig Jahre gebraucht hat, um seine damalige Kurzgeschichte in Romanform zu verwirklichen und dass sie immer in seinem Kopf herumgespukt hat. Und wenn man das so betrachtet, kommt man vielleicht zu dem Schluss, dass dieses Werk nicht für uns, die Lesenden, ist, sondern dass er es für sich geschrieben hat.
Haruki Murakami / Die Stadt und ihre ungewisse Mauer / Dumont Verlag / 640 Seiten / ISBN: 978-3-7558-1000-1 / Erschienen 2024 / zur Verlagsseite