Unangenehmer, spannender Roman, der die Frage aufwirft: Was, wenn dein Kind nicht das Engelchen ist, das du erwartet hast?
Violet ist ein Wunschkind, und Blythe möchte die liebevolle Mutter sein, die ihr selbst so sehr fehlte. Doch als man ihr das Neugeborene in den Arm legt, fühlt sich alles falsch an. Da ist nur Ablehnung, und je älter das Mädchen wird, desto mehr wächst die Angst vor Violet und ihrem feindseligen Verhalten, das sich Blythe nicht erklären kann. Alles nur Einbildung? Oder ist das Mädchen tatsächlich absichtsvoll böse? Fox, der seine Tochter von ganzem Herzen liebt, beobachtet seine Frau mit wachsendem Misstrauen. Bis eines Tages das größtmögliche Unglück über die Familie hereinbricht – und Blythe sich ihrer Wahrheit stellen muss.
Wow, war DAS unangenehm! Lange habe ich kein Buch mehr gelesen, das mir während der Lektüre permanent Schauer über den Rücken gejagt hat. In Ashley Audrains „Der Verdacht“ geht es also um eine Mutter-Tochter-Beziehung, die alles andere als „normal“ zu sein scheint. Normal, das sind diese Mütter, die automatisch diese Verbindung zum eigenen Spross haben, die mit einer Leichtigkeit das Muttersein meistern und nebenbei auch noch Zeit für Hautpflege und Haushalt haben; Mütter wie aus einem Hochglanzmagazin. Blythe weiß insgeheim natürlich, dass das nicht immer der Realität entspricht, sucht jedoch vergeblich Kontakt zu Müttern, denen es ähnlich geht wie ihr. Und so bleibt sie allein mit ihrem Unwohlsein, mit ihrem Verdacht, dass mit ihrer Tochter Violet etwas nicht stimmt. Denn die Kleine weint und schreit nur, wenn die beiden allein sind, beißt sie und scheint der reinste Satansbraten zu sein, der später im Kindergarten auch die anderen Kinder schikaniert – stets jedoch so, dass man Violet nicht mit Sicherheit verdächtigen kann. Als es dann zu einem tragischen Unglück kommt, weil ein kleiner Junge von der hohen Rutsche stürzt und tot ist, da ist Blythe sich sicher, gesehen zu haben, wie Violet ihn gestoßen hat. Und der Verdacht, etwas Böses in die Welt gesetzt zu haben, schwelt und brodelt…
Mütter sollten keine Kinder haben, die leiden. Wir sollten keine Kinder haben, die sterben. Und wir sollten keine bösen Menschen zur Welt bringen.
Blythe plagen fürchterliche Schuldgefühle: Habe ich bei der Erziehung alles richtig gemacht? Ist es meine Schuld, dass das Kind gestorben ist? Sie erinnert sich zurück an die kleinen Racheakte, die sie während der ersten Monate mit Violet unternommen hat: Während Violet schrie und schrie, setzte irgendwann ein „jetzt reichts!“-Gedanke bei Blythe ein, sodass sie an ihren Essays weiterschrieb – mit Kopfhörern und lauter Musik, um das Babygeschrei zu übertönen… Verwurzelt ist das schwierige Mutter-Tochter-Verhältnis in Blythes Familie; bereits in dritter (oder vierter) Generation haben die Frauen Probleme mit ihren Töchtern. Und so erzählt ein Handlungsstrang das Aufwachsen Violets, der andere widmet sich der Familiengeschichtes Blythes – bis hin zu ihrer Großmutter mütterlicherseits, die auch bereits ein kompliziertes Verhältnis zu ihrer Mutter hatte. Wir erfahren, wie drei bzw. vier Generationen von Frauen in lieblosen Mutter-Tochter-Beziehungen steckten und sich beim Erwachsenwerden schworen, anders zu werden – selbst eine bessere Mutter für die eigenen Kinder zu sein.
Ich würde anders sein. Ich würde wie die ganz normalen Frauen sein, denen das ganz leichtfiel. Ich würde alles sein, was meine eigene Mutter nicht war.
Fazit: Ashley Audrains Roman ist unheimlich spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Wir begleiten unsere Protagonistin durch eine enorm schwierige Zeit, aufgrund der auch ihre Ehe zu bröckeln beginnt und die bereits schwierigen Familienbande noch stärker strapaziert werden. Wir erfahren, was es bedeutet, einen Verdacht gegen das eigene Kind zu hegen, dass dieses vielleicht böse ist und nicht der Engel, den all die anderen, perfekten Muttis gebären. Regretting Motherhood ist ein Stichwort, das ich auch in den Ring werfen möchte, denn Blythe möchte eigentlich nichts anderes, als Abstand gewinnen zu ihrer Tochter. Und ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wie ich mich in dieser Situation verhalten würde – vielleicht hätte ich meine Siebensachen gepackt und das Kind beim Vater gelassen, bei dem es sowieso viel glücklicher ist. Der einzige negative Aspekt, den ich erwähnen möchte und der mich ein wenig auf die Palme gebracht hat: Für Violet, die gegen Ende des Buches bereits 13 Jahre alt ist, hat keine ihrer Handlungen Konsequenzen, sie wird nicht einmal ausgeschimpft. Das ist mir ein wenig sauer aufgestoßen.
Ich dachte an Flucht. Dort, in der Dunkelheit, während meine Milch floss und ich im Schaukelstuhl saß, dachte ich daran, sie in ihr Bettchen zu legen und mitten in der Nacht zu verschwinden. Ich dachte daran, wo mein Pass war. Ich dachte an die zahllosen Flüge auf den Abfluganzeigetafeln im Flughafen. Daran, wie viel ich auf einen Schlag am Geldautomaten abheben könnte. Daran, mein Handy dort auf dem Nachttisch liegen zu lassen. Daran, wie lange es dauern würde, bis meine Milch versiegte, meine Brüste den Beweis einstellten, dass sie geboren worden war.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Penguin Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Ashley Audrain / Der Verdacht / Penguin Verlag / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 320 Seiten / ISBN: 978-3-328-60144-9 / Erschienen am 29.03.21 / zur Verlagsseite