Ein erschütterndes, beklemmendes und auch grandioses Werk über Gewalt, Schmerz und vor allem über das Schweigen.
Als kleines Pech möchte die Erzählerin abtun, was ihr als Kind widerfahren ist. Und doch hat es tiefe Spuren hinterlassen. Als nach einem Unfall die Schmerzen nicht aufhören wollen, begibt sie sich in die Hände von Monsieur Mounier. Seine erstaunliche Therapie hilft ihr augenblicklich und löst Erinnerungen, die bis in ihre Kindheit zurückreichen und davon erzählen, dass alles im Leben miteinander in Verbindung steht. Und dass man vor nichts die Augen verschließen darf. (zur Verlagsseite)
»Wenn man nicht mehr richtig lachen kann, muss man anfangen, auf sich aufzupassen.«
Wow, was für ein Buch. Voller Wort- und Erzählgewalt erzählt Birgit Vanderbeke in ihrem Roman „Wer dann noch lachen kann“ von der eigentlich traumatisierenden Kindheit Karlines, die diese als „Pech“ bezeichnet. Karlines Vater schlägt sie grün und blau, obwohl er seine Tochte ja eigentlich nicht „kaputt schlagen“ möchte – manchmal erfordert es eben einfach die „väterliche Hand“, das sagt zumindest ihre Mutter, die bei solchen Episoden dann in die Küche geht und das Radio laut dreht. Ihre Mutter möchte die kleine Karline am liebsten auch mit allen möglichen Medikamenten ruhig stellen, um ihr jegliche Fantasie auszutreiben. Karline tut, was ein Kind in einer solchen Zeit tun muss: Sie flüchtet sich in Fantasiewelten. Dort hört sie eine tiefe Stimme, die ihre eigene sein muss. Daraus schließt sie, dass es für sie eine Zukunft geben muss. Also hält sie weiterhin die Züchtigung und das Vollstopfen mit Medikamenten aus und hofft auf bessere Zeiten. Als Karline eines Abends blutend in ihrem Bett aufwacht, entdeckt sie auf ihrem Nachttisch den Mikrochinesen, der zu dem Ganzen nur zu sagen hat: „Wer dann noch lachen kann“.
Nicht, dass mein Vater mich tatsächlich kaputt geschlagen hätte, sonst wäre ich ja gestorben, aber ich wusste nie so ganz, ob er selber wusste, wann aus dem Schlagen Kaputtschlagen wurde.
„Wer dann noch lachen kann“ ist mein erstes (aber definitiv nicht letztes!) Buch von Birgit Vanderbeke. Autobiographisch gefärbt erzählt sie von der schwierigen Kindheit Karlines zur Zeit des Vietnamkrieges. Mit einer solchen Wucht und Sprachgewalt berichtet die Protagonistin davon, wie sie als Kind regelmäßig misshandelt wurde. Sie versucht sich zu erklären, wieso das so ist und flüchtet oft zu den Nachbarn, die ihr raten, genau hinzusehen, auch wenn man dann vielleicht Dinge sieht, die einem „den Magen umdrehen“. Doch anscheinend schauen gerade ihre Nachbarn nicht genau hin, denn Karline wird nicht geholfen. Für sie fühlt sich die väterliche Gewalt so an, als würde er ein Stoppschild überfahren und könnte einfach nicht mehr bremsen. Vanderbeke zeigt dem Leser ein grausames Bild von Leid und Wegsehen, was leider allzu häufig vorkommt. Die Perspektive wechselt das ganze Buch über nicht, jedoch die Zeit: Im Wechsel zwischen der jungen und der erwachsenen Karline erfährt der Leser, wie sie im Endeffekt mit ihrer schlimmen Kindheit umgegangen ist und wie sie die Dinge, die ihr wiederfahren sind, verkraftet hat. Als Karline nach einem Autounfall über ständige Rückenschmerzen klagt und einen speziellen Heilpraktiker empfohlen bekommt, vertraut sie sich Monsieur Mounier an, auch wenn sie nicht an dessen Heilmethoden glaubt. Doch wie aus dem Nichts löst sich nicht nur ihr Schmerz, sondern auch alte, längst vergrabene Erinnerungen, die sie versteckt mit sich herumgetragen hat, und sie kann endlich Zusammenhänge erkennen und Geschehenes in Relation setzen und letzten Endes mit einer neuen, erwachsenen Sichtweise auf ihre Kindheit zurückblicken.
Es gibt nur einen einzigen Menschen, der auf Sie aufpassen kann.
Das sind Sie. Sonst niemand.
Fazit: Ich bin total überwältigt. Vanderbeke erzählt mit einer Wahnsinnsschreibe die Geschichte von Karline, sodass ich beim Lesen öfters Gänsehaut hatte. Aus der kindlichen Perspektive werden die gewalttätigen Ausbrüche und die Misshandlungen beinahe neutral vermittelt, dass es einem kalt den Rücken herunterläuft. Die erwachsene Protagonistin geht mit den Dingen auch sehr gelassen um und relativiert ihr „Pech“ mit dem der anderen Menschen, denn bei den Dingen, die anderen widerfahren, dreht es ihr regelmäßig den Magen um. Nur mit ihrem eigenen Trauma hat sie sich nicht auseinandergesetzt. Das soll sich aber bald ändern, denn der Besuch bei Monsieur Mounier steht an. Bildgewaltig, wortgewandt, mitreißend – ich wünschte, es gäbe mehr solcher Romane (und weniger dieser Schicksale). Dieses Buch ist definitiv eines meiner bisherigen Jahreshighlights!
Titel: Wer dann noch lachen kann Autor: Birgit Vanderbeke PIPER Verlag Hardcover mit Schutzumschlag, 160 Seiten ISBN: 9783492058391 Erschienen: 01.08.2017
Dieses Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom PIPER Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!