Ein mit literarischen Fakten und Analysen gespicktes Romänzchen, das leider nicht berührt.
Von klein auf wächst Sam mit Büchern auf: Wann immer sie in der Bibliothek ihres Vaters ein Buch findet, in dem sein Lesezeichen liegt, weiß sie, dass er es für sie versteckt hat. Sams Vater ist nicht nur Bestseller- Autor, sondern auch ein direkter Nachfahre der Brontë-Familie. Als er stirbt, ist Sam die letzte lebende Verwandte der Schriftsteller-Dynastie. Alles, was ihr Vater ihr hinterlassen zu haben scheint, ist ein abgegriffenes rotes Lesezeichen. Oder ist es ein Hinweis auf ein geheimes Erbe? Die Öffentlichkeit hat ihren Vater schon lange im Verdacht, wertvolle Gemälde, Briefe und Romanentwürfe der berühmten Schwestern zu verstecken. Antworten hofft Sam am Old College in Oxford zu finden. (zur Verlagsseite)
Ein geheimes Erbe? Eine literarische Schnitzeljagd? Yeah! Oder? In „Die Kapitel meines Herzen” erzählt Catherine Lowell die Geschichte von Sam und ihrem Familienerbe. Das muss Sam doch jedoch erst einmal finden. Man sollte vielleicht noch anmerken, dass sie die letzte lebende Verbleibende der Brontë-Familie ist. Ihr Vater, der sein ganzes Leben der Analyse der Brontë-Bücher gewidmet hat, hinterlässt Sam nach seinem Tod eine kryptische Nachricht, die nach ihren ersten Vermutungen in einer literarischen Schnitzeljagd endet. Doch ist Sam nicht zuhause, sondern befindet sich aktuell am Oxford College, um ihren Abschluss in Literaturwissenschaften zu machen. Zu blöd, dass ihr Professor dann auch noch ein hinreißender Beau ist, der Sam an der Analyse der Nachricht hindert und sie mit fragwürdigen Lehrmethoden zum besseren Arbeiten anspornt. Und dann ist da noch ein gewisser Journalist, der Sam anscheinend hinterherspioniert und wilde Gerüchte über sie an die Öffentlichkeit bringt. Die Rede ist vom versteckten Brontë-Erbe, wertvollen Hinterlassenschaften und unveröffentlichten Romanen der drei Schwestern. Doch Sam weigert sich, diese Gerüchte an sich herankommen zu lassen, und versucht unbeirrbar, die Nachricht ihres Vaters zu entschlüsseln.
„Du wärst fasziniert zu sehen, welch handfeste Dinge aus Träumen erwachsen können.“
— „So wie Sabber?“
Verlockend, nicht wahr? Das dachte ich mir auch. Zur Info: Ich habe keinen Roman der Brontës gelesen und mich bisher auch nicht sonderlich mit ihnen beschäftigt. Zum Glück! Sonst wäre dieses Buch womöglich zur Tortur geworden. Sams Leben bestand bisher ausschließlich aus einsamen Tagen mit Heimunterricht von ihrem Vater, der ebenfalls völlig von seinen Vorfahren fixiert war und diesen Wahnsinn vermutlich auf Sam übertragen hat. Kapitel um Kapitel werden Textstellen analysiert, verborgene Inhalte gesucht und Metaphern gedeutet, dass man teilweise nicht einmal mehr einen Roman vor sich vermutet, sondern ein Abhandlung über die Brontës, ihr Leben und ihr Schreiben. Catherine Lowell konzentriert sich mit ihrem Buch so sehr auf diesen Aspekt, dass überhaupt keine Zeit blieb, trotz 350 Seiten eine sympathische Protagonistin zu entwerfen. Diese bleibt das gesamte Buch über dem Leser unbegreifbar und ein bisschen merkwürdig. Aus dem Klappentext kann man entnehmen, dass sich zwischen Sam und ihrem Professor eine Romanze entspinnen wird. Wie die Autorin dies gehandhabt hat, finde ich sehr gut und teilweise auch authentisch, sogar das Ende hat mir diesbezüglich sehr gut gefallen. Doch das ganze Brontë-, Familienerbe- und Rätsel-Thema war mir ein bisschen zu viel. Sam versteift sich im Laufe des Buchs so sehr darauf, etwas Verborgenes zu entdecken, dass sie meiner Meinung nach völlig vergisst, zu leben. Sie atmet die Brontës ein und Analysen wieder aus. Dass das auf die Psyche geht, ist verständlich, und doch weigert sie sich, Vernunft anzunehmen und die Dinge ruhen zu lassen. Sams Leben erscheint mir völlig trostlos, einsam sitzt sie jeden Tag in ihrem Turm am Oxford College und liest wieder und wieder die Bücher der Brontës. Catherine Lowell hat es leider nicht geschafft, diese Einsamkeit für den Leser nachfühlbar zu gestalten, so dass man völlig teilnahmslos zuschaut. Der Sprachstil war ansonsten sehr gut lesbar, mir hat auch die Schreib- und Erzählweise gefallen und besonders die Rückblenden zu vergangenen Tagen mit ihrem Vater. Dennoch blieb nach der „Auflösung” ein Hohlraum zurück, der eigentlich mit einem tollen Leseerlebnis hätte gefüllt sein müssen.
Sobald ein Buch das Gehirn eines Autors verlassen hatte, bekam es ein Eigenleben und wurde zur einzigen Verbindung zwischen Leser und Autor. Dem aufmerksamen Leser offenbarte ein Buch Geheimnisse aller Art – sei es über seine Figuren oder mitunter über den Schöpfer selbst.
Fazit: Überraschend unempathisch erzählt Catherine Lowell die Geschichte der letzten Nachfahrin der Brontë-Schwestern und man kommt nicht umhin, sich zu fragen, ob die Autorin privat ebenso von ihnen besessen ist wie ihre Protagonistin. Zwischen zahlreichen Analysen, Zitaten und Diskussionen quetscht Lowell noch eine „Schatz”-Suche und eine Liebesgeschichte. Dieses Buch ist wieder mal ein klarer Fall von „Tina lässt sich von dem hübschen Cover locken“, und das hat sich in der Vergangenheit schon nicht immer bewährt. Wer hier eine spannende literarische Schnitzeljagd durch Sams Bibliothek erwartet, wird leider enttäuscht: Analyse reiht sich an Analyse reiht sich an Analyse… Wer die Brontë-Romane bereits kennt (wie vermutlich 90% der Menschen – außer mir) wird vielleicht nicht von der Ansammlung an Fakten und Durchexerziererei erschlagen, ich als Brontë-Noob hatte allerdings keinen richtigen Verbindungspunkt hierzu und war demzufolge etwas übersättigt. Fans der Brontë-Romane und von seichten, humorvollen Liebesgeschichten werden hier möglicherweise gut bedient; Fans von packender Spannung sollten bei diesem Werk wohl lieber passen.
Dieses Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Atlantik Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Titel: Die Kapitel meines Herzens Autor: Catherine Lowell Atlantik Verlag ISBN: 9783455650860 Taschenbuch, 352 Seiten Erschienen: 16.08.2017
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