Thomas Pierce übertrifft mit seinem Roman alle Erwartungen: Dieses Buch ist wunderbar philosophisch, nachdenklich und voller Rätsel.
Heute möchte ich euch ein ganz besonderes Buch vorstellen, das mir in der Verlagsvorschau zwar nicht ins Auge gefallen ist, dafür aber bei einer Verlosung von Vorablesen. Zuerst mag das Cover sehr verwirrend wirken, doch nach der Lektüre ergibt alles einen Sinn! Wenn ihr ein wenig wagemutig seid und euch für Themen wie den Tod und das Paranormale interessiert und nicht-kitschige Liebesgeschichten mögt, gibt’s jetzt ein TL;DR: Lest dieses Buch!
Die Zukunft: ein Feuer, ein Hund, die Wendeltreppe.
Sie gibt ihr Bestes, um die Zukunft zu vermeiden.
Worum geht’s überhaupt?
Anhand der kurzen Leseprobe von Thomas Pierce‘ Romandebüt „Die Leben danach“ konnte ich mir nur schwer ausmalen, wie sich dieses Buch entwickeln würde – ist es ein Roman über einen Mann, der sein Leben völlig umkrempelt, eine Liebesgeschichte oder etwas völlig anderes? Wie sich herausgestellt hat, trifft der letzte Punkt den Nagel auf den Kopf. Es beginnt damit, dass unser Protagonist Jim, ein ziemlich durchschnittlicher Typ, einen Herzstillstand hat und für eine Minute oder zwei tot ist. Dadurch, dass er in diesen wenigen Momenten keinerlei Nahtoderfahrung, gleißendes Licht oder ähnliches gesehen hat, ist er nachhaltig verstört. Zum Schutz vor weiteren Herzproblemen wird ihm ein technologisch sehr fortgeschrittenes „Sicherheitsnetz“ um sein Herz herum implantiert, das sein Herz auch dann weiterschlagen lassen würde, wenn er bereits tot ist. Dass er das Gerät und seinen eigenen Herzschlag über sein Handy in Echtzeit verfolgen kann, macht die Möglichkeit des Todes zu seinem ständigen Begleiter. Fortan sieht er das Leben mit neuen Augen und ist sich permanent seiner eigenen Sterblichkeit bewusst. Jim beschäftigt sich obsessiv mit den Nahtoderfahrungen anderer Menschen, er liest alles, was er zum Thema findet; er grübelt sehr viel über den Tod, besonders über das, was danach kommt, und kämpft mit Panikattacken, da er Angst vor dem großen schwarzen Nichts hat.
Ich würde sterben. Jeden Moment würde ich sterben. […] Ich würde weg sein. Wie mein Vater, wie alle anderen. Was auch immer es war, ich würde nicht einmal wissen, dass es passiert war. Ich würde mein Leben nicht vermissen. Alles, was ich je gewesen war, würde einfach verschwinden. […] Denn es gab keine andere Seite, oder? Das hier war die einzige Seite, nicht wahr?
Dann kommt er zufällig mit einem kuriosen Fall von Spuk in Berührung: In einem Restaurant wurde auf einer Wendeltreppe eine Stimme aufgezeichnet, die eindeutig nicht von dieser (lebendigen) Welt stammt. Sie ruft: „Der Hund brennt!“ Auf dieser Wendeltreppe soll allerdings nicht nur diese Stimme zu hören sein, die Restaurantbesitzerin berichtet auch von geisterhaften Erscheinungen und dem Gefühl von dem Druck von Händen, die Menschen von der Treppe zu stoßen scheinen. Jim ist zugleich fasziniert wie verstört. Noch während er darüber brütet, welche logische Erklärung es für diesen vermeintlichen Spuk geben kann, trifft er seine Ex-Freundin aus Schulzeiten wieder und verliebt sich glatt erneut. Nun jongliert Jim zwischen seiner Angst vor dem Tod, einer frisch entflammten Liebe und dem Rätsel der Wendeltreppe. Sein Leben beginnt, sich drastisch zu verändern. Der Spuk sowie die vorherigen Bewohner des Restaurants, die vermutlich Ursprung dieser Geistererscheinungen sind, beschäftigen Jim viele Jahre lang. Er erforscht die Familiengeschichte, beschäftigt sich mit paranormalen Forschungen und esoterischen Riten, mit denen man mit den Toten kommunizieren können soll. Dabei stößt er auf die Physikerin Sally Zinker, deren Forschung sein Leben komplett auf den Kopf stellen wird. Was Jim eigentlich nur als übersinnlichen, mystischen Mumpitz abtut, nimmt reale Formen an und gewinnt durch die Forschung der Physikerin enorm an Glaubwürdigkeit.
Sally Zinkers Forschung beschäftigt sich mit Geistererscheinungen und den sogenannten Daisy-Teilchen, die die „andere Seite“, die Totenwelt in einer bestimmten Situation durchlässig erscheinen lassen. Auf diese Weise kann innerhalb eines kurzen Zeitraums sozusagen Kontakt mit den Verstorbenen aufgenommen werden. Damit man diesen Kontakt allerdings steuern kann, um gezielt mit geliebten Menschen zu kommunizieren, muss man für den Bruchteil einer Sekunde aufhören zu existieren. Das klingt verrückt? Ja, etwas, aber Thomas Pierce schafft es, Gedankengänge, die wir alle wohl an dem einen oder anderen Punkt unseres Lebens einmal tätigen, mit physikalischen Prinzipien und Forschungen zu verknüpfen und sogar noch eine Liebesgeschichte, die nicht kitschig ist (juhu!) einzubauen. Ein echtes Allround-Paket also, das nicht nur die Grenzen des Klappentextes sprengt, sondern auch alle Erwartungen. Lange habe ich keinen so guten Roman mehr verschlungen. „Die Leben danach“ erinnert mit seiner zugleich wissenschaftlichen als auch philosophischen Note stark an die Werke von Scarlett Thomas, die in ihren Roman verschiedenste Themengebiete spannend verwebt.
Sie suchte nicht unbedingt nach Gott. Sie suchte nach einem Anzeichen dafür, dass das Leben über den physischen Körper hinausging, dass das Bewusstsein auf irgendeine Art den Tod des Körpers überleben konnte.
Wie hat es mir gefallen?
Thomas Pierce hat mit „Die Leben danach“ ein Meisterwerk geschaffen, das auf so vielen Ebenen einfach nur genial ist. Selbst die Zinkers Forschung ist wahnsinnig gut beschrieben, man wird nicht mit harten physikalischen Fakten bombardiert, sondern erfährt alles über die Daisy-Teilchen wohldosiert und niemals trocken. Sehr gut gefallen hat mir zudem auch die Zukunft, die der Autor uns schildert: Jim lebt nicht weit, jedoch einige Jahre in unserer Zukunft. Hologramme werden immer alltäglicher und bilden einen netten roten Faden, der die Frage „Was ist real?“ immer wieder aufnimmt und alles Fleischliche, die Hologramme sowie die Erscheinungen aus der Welt der Toten verknüpft. Weiterhin finden sich am Ende jedes Kapitels Szenen der früheren Bewohner des „spukenden“ Hauses, und nach und nach kommt man dem Geheimnis auf die Spur und beginnt, zu begreifen. Wenn die Puzzleteile ineinandergreifen und alles plötzlich Sinn ergibt, bildet Pierce‘ Roman ein großartiges Gesamtbild. Denn der Autor schafft es zum Ende hin tatsächlich, alle losen Fäden, die er im Laufe seines Romans aufgreift, zu verknüpfen. Auch wenn der Kopf nach der Lektüre vor lauter Fragen zum Thema „Leben“ nach dem Tod zu platzen droht, verbleibt das Gefühl der Begeisterung: für die Story, die Idee – und das Talent des Autors, der mit seinem ersten Roman direkt einen Volltreffer landet. Bitte mehr davon!
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Dumont Verlag über Vorablesen als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Thomas Pierce, Die Leben danach. Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 400 Seiten. ISBN: 978-3-8321-9893-0. Erscheint am 18.02.19. Zur Verlagsseite
Dass das Buch bei dir so punkten konnte ist natürlich super! Auf meiner Wunschliste steht es auch weit oben!