Eindringlich, kurzweilig und verdammt emotional!
Überstürzt ist Nora aus den USA in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, um ihrer Mutter, die im Sterben liegt, nahe zu sein. Unter der Last des viel zu frühen Abschiednehmens bricht eine nur oberflächlich verheilte Wunde auf, und ein Verbrechen, dessen Opfer ihre Mutter als Kind geworden ist, wird offenbar. Nora erstattet Anzeige und erhält eine niederschmetternde Antwort: Verjährt. Am Mikrofon beginnt sie ein gefährliches Spiel, um die Hörerschaft gegen den Täter zu mobilisieren. Als es schon fast zu spät ist, findet sie gemeinsam mit Simon, einem Rechtsreferendar, einen anderen Weg.
Ein wirklich einzigartiger Plot, den Karin Kalisas neues Buch „Radio Activity“ verspricht. Und tatsächlich wurde ich ab der ersten Seite durch den eindringlichen Sprachstil der Autorin förmlich ins Buch gezogen. Wir lernen Nora kennen, die sich mit der Krankheit und dem drohenden Tod ihrer Mutter auseinander setzen muss – aber auch mit dem Bericht über ein Verbrechen, dessen Opfer sie bereits im Kindesalter wurde. Nora setzt alle Hebel in Bewegung, um Gerechtigkeit für ihre Mutter einzufordern und ihren Peiniger, der vermutlich seinen Lebensabend genießt, hinter Schloss und Riegel zu bringen. Doch als sie erfährt, dass der Anspruch auf eine Strafanzeige bereits verjährt ist, bricht etwas in Nora heraus und sie schmiedet einen Plan, wie sie viele Leute erreicht und das Bewusstsein für diese unfassbar schwachsinnigen Paragraphen wecken kann: Nora will unbedingt On Air – sie schnappt sich zwei alte Freunde und droht, mit einem GPS-Quiz, bei dem sie die Massen gegen den Täter mobilisieren will, den neu aufgezogenen Radiosender gegen die Wand zu fahren.
Verjährung? Welcher Täter-Verein ist auf die Idee gekommen, diese Verbrechen verjähren zu lassen? Welche Missbrauchs-Lobby hat beschlossen, die Täter laufen zu lassen, wenn sich sich über die Jahre retten? Sexueller Missbrauch an Kindern, die daran sterben: verjährt. Wie kann ein Mensch überhaupt in der Lage sein, unter ein solches Unrecht eine Unterschrift zu setzen?
„Radio Activity“ ist wirklich ein besonderes Buch. Der Leser erhält hier Einblicke in die aktuelle deutsche Rechtslage, die nur den wenigsten von uns bekannt sein dürfte. Dass Gewaltverbrechen an Kindern verjähren dürfen, macht nicht nur Nora sprachlos, sondern auch mich unfassbar wütend. Eine kurze Recherche zeigt, dass Gewaltverbrechen und auch Sexualverbrechen an Kindern derzeit tatsächlich nach 20 Jahren verjährt sind, diese Frist allerdings erst mit Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers beginnt. Im Roman plant Nora sofort die Rache, um ihrer Wut Raum zu machen und andere Menschen diese Problematik vor Augen zu führen.
Das Buch ist dabei in drei Kapitel eingeteilt, die sich jeweils mit dem Aufbau des Radiosenders und der Hörerschaft, mit dem „Geständnis“ der Mutter sowie Einblicken in ihre Kindheit und zu guter Letzt mit dem Umsetzen eines waghalsigen Plans befassen. Das erste Kapitel ist dabei sehr musiklastig, ich habe viele neue Songs entdeckt. Es ist immer etwas Besonderes, wenn die Protagonisten eines Buchs bestimmte Lieder hören, die man sich als Leser auch anmachen und somit mehr ins Geschehen treten kann. Das zweite Kapitel, „Stay“, war jedoch das intensivste. Hier berichtet Noras Mutter aus ihrer Kindheit und wie sich die Vorfälle durch ihr weiteres Leben gezogen haben wie Radioaktivität. Nora beschäftigt sich auch mit den Gedanken, wie sich das Verbrechen an ihrer Mutter auf sie selbst auswirkt – denn Auswirkungen gibt es immer. Sie analysiert sich und ihre Kindheit und entdeckt Spuren an die unglaubliche Tat auch im eigenen Leben – auch sie ist von dieser Radioaktivität gezeichnet:
Kein Wunder, wenn man in einem Körper herangewachsen war, der ein Verbrechen gespeichert hatte. In einem solchen Speicher hatte es eine normale Zeugung gar nicht mehr geben können. Nicht normal nichtnormal, außerkörperlich und Reagenzglas und so weiter, sondern innerkörperlich nicht-normal, mit all den sich immer weiter ausbreitenden Schäden, mit Aushalten und Versteinern und Zähnezusammenbeißen.
Fazit: Karin Kalisa ist hier ein sehr eindringliches, noch lange nachklingendes Buch gelungen, das mich bis zum Ende fesseln konnte. Die Charaktere sind alle sehr rund und alle ihre Geschichten wurden wunderbar zu einem großen Ganzen verwoben. Mir hat besonders das Zusammenspiel von Nora und dem Rechtsreferendar gefallen. Denn Simon steht für Nora anfangs auf der falschen Seite, indem er ihre Anzeige mit dem Urteil „verjährt“ abwehrt, doch wie so oft steckt dahinter eine gute Geschichte, die die Autorin auch gekonnt erzählt. „Radio Activity“ ist aufgrund der schwierigen Thematik ein sehr wichtiges Buch, das aber in seinen weniger ernsten Parts gut unterhalten kann und von mir eine unbedingte Weiterempfehlung erhält!
Der Verlag hat übrigens alle im Buch erwähnten Songs in eine Spotify Playlist gepackt:
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom C. H. Beck Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Karin Kalisa / Radio Activity / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 352 Seiten / ISBN: 978-3-406-74093-0 / Erschienen am 18.07.19 / zur Verlagsseite
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