Wie würde sich dein Leben verändern, wenn du in drei Wochen erblinden würdest? Ein Buch, das sehr nahe geht und den Leser noch lange nach der Lektüre begleitet.
Vincent wird erblinden. Eine seltene Augenkrankheit zerstört alle Träume, alle Zukunftspläne des jungen Mannes. Rastlos arbeitet er eine Liste an letzten Abenteuern und Wünschen ab. Erst bei einem Besuch auf dem Land findet er wieder zu sich. Er will den verwilderten Gemüsegarten seines Großvaters bestellen, solange er noch sieht. Und während er jätet, gräbt und sät, tritt Nachbarin Coline zwischen seine Cosmeen und Küchenkräuter. Wenn er sich einer Fremden öffnen kann, dann vielleicht auch einer Welt in neuen Farben?
Selten hat mich ein Buch so fasziniert wie Karine Lamberts „Der unsichtbare Garten“. Hinter dem – zugegeben ziemlich hübschen – Einband versteckt sich eine Geschichte, die noch lange nach der Lektüre im Kopf bleibt. Vincent, der plötzliche Schwindelanfälle hat, wird von seiner Ärztin mit einer niederschmetternden Diagnose vor den Kopf gestoßen: Innerhalb von wenigen Wochen wird sein Augenlicht mehr und mehr abnehmen, bis er völlig erblindet ist. Für Vincent bricht eine Welt zusammen – verständlicherweise! Die Ängste des jungen Mannes, der mitten im Leben steht, kurz vor der Heirat, als Tennislehrer, mit einer anstehenden Kinderplanung, sind absolut nachvollziehbar. Als Leser fühlt man stark mit – denn was würdest du mit dieser Diagnose anfangen? Was würde aus deinem Leben, wie du es gerade führst, werden? Kannst du deinen Job noch ausüben? All diese Fragen spukten nicht nur Vincent, sondern auch mir im Kopf herum. Denn nein, ich könnte meinen Job nicht länger ausüben, sollte ich erblinden. Und mein Leben, so unspektakulär es auch sein mag, würde sich genau wie bei Vincent um 180 Grad wenden. Wie käme ich nur zurecht? Mein Magen zieht sich zusammen, und obwohl ich unbedingt weiterlesen möchte, muss ich eine kleine Auszeit vom Buch nehmen. Das Gedankenkarussell hat aber gerade erst losgelegt: Welche Jobs kann man überhaupt ausüben, wenn man sein Sehvermögen verloren hat? Wie kann man seinen Alltag bestreiten, wenn man nicht zufällig das Glück hat, einen Partner an der Seite zu haben, der einen unterstützt? Letzteres erfährt Vincent am eigenen Leib: Seine Partnerin verlässt ihn. Sie hält seine anstehende Erblindung für eine Ausrede und nimmt ihn nicht ernst. Vincent ist also in den Tagen nach der Diagnose auf sich, einen unerwarteten Freund und seine Eltern gestellt – obwohl er sich die ersten Tagen komplett einigelt, von Angst gebeutelt, sein Augenlicht betrauernd. Absolut nachvollziehbar.
Vincent versucht, bevor seine Sicht zu sehr verschwimmt, noch aufzusaugen, was geht – Farben, Formen, die Schönheit eines Sonnenuntergangs. Doch dann ist es eines Tages soweit: Er wacht auf, schlägt seine Augen auf, und sieht – nichts. Das einzige, das ihm geblieben ist, ist eine etwas hellere Stelle in der Mitte seines Sichtfeldes. Mittlerweile im Haus seiner Großvaters wohnhaft, versucht er, durch den Tag zu kommen, und richtet dabei allerlei Chaos an. Gut, dass seine Nachbarin Coline da ist, die auf sein Klopfen an der Wand oder sein Gerumpel, wenn er gestolpert ist, reagiert und sich um Vincent kümmert. Da war ich als Leser (genau wie Vincent) ernorm erleichtert. Auch, wenn er seine Unabhängigkeit veibehält und bspw. den Weg zum Dorfladen an der Anzahl an Schritten abmisst, kann Vincent sich stets auf Coline verlassen. Der schlaue Leser weiß natürlich, auf was das hinführt. Und es ist auch sehr offensichtlich und vorhersehbar. Dennoch hat mich Vincents Reise bis zu diesem Punkt tief berührt, sodass ich mich wirklich nicht über die Vorhersehbarkeit aufregen möchte.
Vincent erwacht. Die Vorhänge sind zugezogen, oder die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Er schließt die Augen wieder, öffnet sie und schließt sie wieder. Kalter Schweiß rinnt ihm zwischen den Schulterblättern hinab. Die Nachttischlampe mit dem Druckkopf: nicht zu sehen. Die roten Mohnblumen und die grünen Blätter der Tapete: nicht zu sehen. Aus der Nähe, aus der Ferne, von vorn und von der Seite: Das Verb sehen ist verschwunden. […] Vincent hat sich unter der Decke zusammengerollt und führt seine rechte Hand zum Gesicht, immer näher. Dann die linke. Explodierter Autofokus. Er ist blind.
Karine Lambert erzählt die fortschreitende Erblindung Vincents so detailgetreu und empathisch, dass man als Leser gar nicht anders kann, als mit dem Protagonisten mituzleiden. Alle seine Gewohnheiten werden sich verändern, sein Alltag wird ein komplett anderer werden. Es ist einfach ein sehr bedrückendes Thema. Doch die Autorin schafft es, immer einen Hoffnungsschimmer durchblitzen zu lassen. Sei es nun Vincents Eltern, zu denen er nie einen besonderen Zugang hatte, die ihm aber nun zur Seite stehen, oder ein ehemaliger Kollege, der sich als unerwarteter Rettungsanker entpuppt. Oder eben auch Coline, Vincents neue Nachbarin. Dazu gesellen sich noch die Bewohner des kleinen Dörfchens, wo Vincent jetzt das Haus seines Großvaters bewohnt, und die örtliche Taubö (Tauschbörse), bei der jeder gibt, was er kann, und im Gegenzug Hilfe erhält. Wie auch bei „Wenn das Schicksal anklopft, mach auf“ konnte ich mit dem letzten Viertel der Geschichte (als die Story sich langsam, aber sicher in Richtung Happy End bewegt) wenig anfangen, dennoch habe ich „Der unsichtbare Garten“ unheimlich gern gelesen.
Er flucht beim Aufstehen, klettert auf allen vieren die Treppe wieder hinauf, außer Atem wie ein gehetztes Tier. […] Wie spät ist es? Was ist ein Tag ohne Nacht? Er will sehen, wie das Wasser einläuft, das Rot und Blau für kalt und heiß, Mireilles rosige Wangen, den Schimmelfleck an der Wand, die Spur des Taschenmessers auf dem abgenutzten Holztisch, den Apfelbaum hinter dem Badezimmerfenster, Opas Rasierpinsel, sein Gesicht im Spiegel. Er will sehen! Irgendetwas, egal was. Nur eine Sekunde lang, aber er will noch einmal sehen.
Fazit: Dieses Buch hat mich mehr zum Grübeln angeregt als so manch anderes, das ich in der letzten Zeit gelesen habe. Die Angst, das eigene Augenlicht zu verlieren, ist wirklich eine grundlegende Angst, die jeder in uns trägt, der das Geschenk der Sehkraft erleben durfte. Somit hat mich „Der unsichtbare Garten“ auch dazu angeregt, mein eigenes Sehen etwas mehr schätzen zu lernen (auch, wenn ich jedes Jahr eine neue Brille brauche und meine Sehstärke stetig abnimmt). Dieser feinfühlig erzählte Roman ist wirklich ein Geheimtipp. Niemals kitschig, charmant, und obwohl es sich um ein sehr trauriges Thema handelt, deprimiert er nicht. Ganz im Gegenteil, denn obwohl Vincent sein Augenlicht verliert, gewinnt er so viel mehr.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Diana Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Karine Lambert / Der unsichtbare Garten / Diana Verlag / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 288 Seiten / ISBN: 978-3-453-29240-6 / Erschienen am 25.05.20 / zur Verlagsseite