Betörend und düster – Zoe Gilberts Debütroman fesselt bis zur letzten Seite.
Die salzige Luft ist schwer vom Duft der Ginsterbüsche, und etwas Mystisches liegt über der Insel. Wundersame Geschichten erzählen von diesem Ort, an dem das Leben geprägt ist von der rauen Natur, alten Bräuchen und dunklen Mythen, die in den Alltag der Menschen eindringen. Da ist beispielsweise Verlyn, der mit einem Flügel statt eines zweiten Arms geboren wurde. Oder Plum, die von einem Mann entführt wird, aus dessen feuchten Locken sie winzige Muscheln kämmt … Mit jeder Erzählung taucht man tiefer ein in die Schicksale der Bewohner von Neverness und verfällt ihrer eigentümlichen Heimat.
Kennt ihr das, wenn ihr euch basierend auf dem Cover ein Bild von einem Buch macht, aber es dann lest und komplett überrumpelt werdet? Dieses glitzernde Büchlein sprach mich zunächst überhaupt nicht an, da ich hinter der wunderschönen Optik ganz schlimmen Kitsch vermutete. Doch mehrere Reviews später war dann doch klar, dass ich Zoe Gilberts Debütroman „Nebelinsel“ lesen musste. Andere Blogger berichteten von düsteren, teils makabren kleinen Geschichten, da war meine Neugier geweckt. Und ich wurde nicht enttäuscht – ganz im Gegenteil, die Menschen aus Neverness haben mich mit ihren eigentümlichen, folklorischen (ist das überhaupt ein Wort?) und teilweise auch sehr schaurigen Fabeln begeistert. Kapitelweise verfolgen wir viele verschiedene Bewohner der Insel, verharren also nicht länger bei einer Geschichte, auch wenn sie noch so spannend ist. Im Verlauf des Buches trifft man jedoch immer wieder Charaktere wieder, sodass wir sie auf die ein oder andere Art doch ein wenig weiter verfolgen können. Die zahlreichen Charaktere dieses Buches sind dabei nicht die „üblichen Verdächtigen“, jeder hat irgendeine Besonderheit, die ihn auszeichnet.
Horch, wie der Rhythmus durch das Ginsterlabyrinth rollt. Der Abend dämmert schon, es ist die Zeit zwischen dem letzten Rest Sonne und dem ersten Stern, die Tür des Tages schließt sich; bald wird die Nacht sie endgültig versiegeln. Hämmernde Schritte hallen durch die gewundenen Tunnel im Ginster, Herzen klopfen im Takt dazu, alles überlagert vom Keuchen und Schnaufen der Jungen.
Aber auch das Umfeld, in dem die Menschen auf der Insel aufwachsen, ist ein besonderes: Mythen, Bräuche und merkwürdige Rituale scheinen hier an der Tagesordnung zu sein. Den Auftakt macht eine Geschichte über ein Ginsterlabyrinth, in dem junge Männer auf der Suche nach Pfeilen sind, die die Mädchen der Insel hineingeschosen haben. Klingt erst einmal nicht abenteuerlich, doch ist das Ginstergewächs dicht und die Dornen zahlreich. Jedes Mädchen hat an seinen Pfeil ein Stück Stoff mit dem eigenen Namen befestigt, und der Jüngling, der ihres aus dem Ginster fischt, darf sich einen Kuss abholen. Jedes Mädchen hofft allerdings darauf, dass der Junge mit dem rötesten (blutigsten) Mund seinen Kuss abholen kommt, und so verausgaben die Jungs sich bei der Suche, reißen sich absichtlich die Haut auf, um für die wartenden Mädchen attraktiver zu sein… Andere Geschichten sind nicht weniger ungewöhnlich; sie erzählen von einer jungen Frau, die einem Wasserbullen zum Opfer fällt (hier kamen mir Bilder von „The Shape of Water“ in den Sinn) oder einer Frau, die allem Anschein nach durch eine „Scheinmutter“ ausgetauscht wurde, denn sie weiß nicht mehr, wie sie sich verhalten muss und isst nur noch Erde… Ihr seht, es wird abwechslungsreich und vor allem verrückt!


Doch nicht nur jede der einzelnen Kurzgeschichten ist etwas Besonderes: Der Erzählstil hat mir ebenfalls gut gefallen. Zoe Gilbert hat ein fantastisches Talent, das Düstere mit dem Märchenhaften zu verbinden. Ich hatte das Gefühl, als hätte das Buch gerne noch ein wenig weitergehen können. Es las sich sehr flüssig und hatte aufgrund der kurzen Geschichten auch keine Längen. Wenn ich recht überlege, gibt es keine Erzählung, von der ich nicht so begeistert war. Wie man es von klassischen Märchen auch kennt, geht hier nicht alles gut aus; „Ende gut, alles gut“ gibt es in Zoe Gilberts Roman nicht.
Fazit: Hinter der (wie man es vom Wunderraum Verlag kennt) wunderschönen Optik verbirgt sich gottseidank kein Kitsch, sondern eine tolle Märchensammlung – falls man es so nennen mag. Dass es sich hierbei um Zoe Gilberts Debütroman handelt, merkt man zu keiner Sekunde. „Nebelinsel“ fesselt, und das von der ersten bis zur letzten Seite. Wer lose zusammenhängende Kurzgeschichten mag und auch von Märchen und Mythen nicht abgetan ist, der sollte definitiv mal einen Blick hinein in dieses Buch werfen.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Wunderraum Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Zoe Gilbert / Nebelinsel / Wunderraum Verlag / Gebundenes Buch, Seiten / ISBN: 978-3-336-54804-0 / Erschienen am 04.11.19 / zur Verlagsseite
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