Ein wilder Genre-Mix mit lauter geekigen Anspielungen, der sich mühelos neben „Ready Player One“ einreiht – aber leider nicht so überzeugt.
John Chu liebt seinen Job. Als Sherpa begleitet er zahlungskräftige Kunden in Online-Rollenspiele wie das populäre Call to Wizardry und zeigt ihnen die Kniffe des Games. Das Geschäft brummt, und John würde sich als glücklich bezeichnen, wären da nicht zwei klitzekleine Probleme: Zum einen hat seine Ex-Freundin nach einer unglücklich verlaufenen Trennung geschworen, seine berufliche und private Existenz zu vernichten. Zum anderen vermutet er, dass es sich bei seinem neuesten Kunden in Wirklichkeit um den nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un handelt, der die virtuelle Welt studieren möchte, um sie für seine politischen Zwecke zu instrumentalisieren. John versucht, der wahren Identität des ominösen »Mr. Jones« auf die Spur zu kommen – und verstrickt sich in ein Komplott, das ihn den Kopf kosten könnte.
Matt Ruffs „88 Namen“ hat mich bereits einige Weile auf Goodreads und Instagram verfolgt, bevor ich dann endlich auch zur Lektüre gegriffen habe. Dieser temporeiche Action-Sci-Fi-Roman ist jetzt auf Deutsch erschienen und wird bestimmt noch zahlreiche Leser verwirren. Denn Ruff wechselt hier so rasant zwischen Realität und Virtualität, sodass der ein oder andere Leser nicht mehr hinterherkommt (Paradebeispiel: ich). Während der Sherpa John seinen neuesten Kunden also durch die verschiedensten Online-Welten karrt, nehmen wir an diversen Kämpfen und Diskussionen um Game-Historie teil, was manchmal ganz schön zäh ist. Spannend ist allerdings, dass wir nicht nur moderne Games bereisen, sondern als ganz besonderes Schmankerl ein Text-Adventure, bei dem der Stil des Kapitels eben als solches dargestellt wird. Richtig gelungen! Während John sich also ganz klassisch zwischen Orks und Drachen durchschlägt, wächst in ihm der Verdacht, dass es sich bei seinem neuen Kunden um einen gewissen Diktator handeln könnte. Johns Nachforschungen zum Thema Nordkorea und seine Besuche im virtuellen Pjöngjang waren für mich Highlights des Buchs. Zu wenig ist über dieses abgeschottete Land bekannt, als dass ich müde werde, alles darüber aufzusaugen. Zwischen Verschwörungskomplotts und Action-Sequenzen wird Ruff nicht müde, nerdige Dinge einzustreuen. Wer „Ready Player One“ gelesen hat, kennt dieses Stilmittel bereits und kann nur müde gähnen. Leider ist Name-Dropping nicht mehr lustig und relatable, sondern löst bei mir im Gegenteil eher Befremdlichkeit aus.
Ein spannender Aspekt, den ich euch nicht vorenthalten möchte, ist die sehr umfangreiche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Cybersex. Da der Roman ein bisschen in der Zukunft spielt, gibt es interessante neue Konzepte, wie etwa ein Abspielgerät für Blowjob-Files, die jemand Drittes mit einem kompatiblen Eingabegerät aufgenommen hat – das muss nicht zwangsweise ein Dildo sein, sondern man kann auch Musikdateien in Blowjob-Dateien umwandeln, die dann über die überstülpbare Ausgabemontur „abgespielt“ werden. Zugegeben, sehr skurril, aber hey, ich könnte mir vorstellen, dass die Zielgruppe dieses Buches bestimmt darauf abfährt. 🙂 Verzeiht die bruchstückhafte Besprechung, aber dieser Roman macht es mir nicht leicht und ist selbst auch ein wenig chaotisch. Loben kann ich allerdings den Schreibstil, der mir unglaublich gut gefallen hat, sodass ich das Buch an einem Tag verschlungen habe.
Fazit: Ein kurzweiliger Roman mit einigen Schwachpunkten, der lediglich durch seine Gaming-Sequenzen ausgebremst wird. Davon hätten es auch kürzere Abschnitte getan. Die wilde Genre-Mischung hat mir zwar zugesagt, trotzdem würde ich „88 Namen“ rückblickend vermutlich nicht zu meinen Lieblingsbüchern zählen. Der Verlag empfiehlt das Buch Leser*innen von „Ernest Cline, Jasper Fforde und Douglas Adams“ – den Teil mit Ernest Cline kann ich definitiv bestätigen. Wer also von „Ready Player Two“ enttäuscht ist oder einfach etwas Frisches in der Sparte lesen möchte, ist hier gut aufgehoben.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Fischer Tor Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Matt Ruff / 88 Namen / Fischer Tor Verlag / Taschenbuch, 336 Seiten / ISBN: 978-3-596-70093-6 / Erschienen am 25.11.20 / zur Verlagsseite