Schauriges Psychodrama über eine Kindheit des Grauens – sehr lesbar und empfehlenswert!
»Mein Name ist Alexandra Gracie, ich bin 15 Jahre alt. Bitte rufen Sie die Polizei.« Unzählige Male hat sich Lex Gracie vor ihrer Flucht aus dem Elternhaus diesen Satz vorgesprochen, angekettet an ihr Bett, vor Dreck starrend, bis auf die Knochen abgemagert. Mit ihrer Kindheit im Horrorhaus, wie die Presse das Elternhaus der sieben Geschwister bald nach Lex‘ Flucht taufen sollte, muss sich die mittlerweile erwachsene Anwältin konfrontieren, als ihre Mutter im Gefängnis stirbt und ihr das Elternhaus vermacht. Alles, was sie jahrelang verdrängt hat, bricht sich nun Bahn: der Hunger, die Angst – und ihre Identität als Girl A, das Mädchen, das entkam.
Dieses Buch hat geradezu meinen Namen gerufen – thematisch reiht es sich perfekt in eine Reihe unangenehmer Bücher („Harter Tobak“) ein, die ich sehr gerne gelesen habe: „Kinderwhore“, „Mein Ein und Alles“ oder auch „Meine dunkle Vanessa“. Und so nun auch Abigail Deans „Girl A“, das sich um Lex (Girl A) und ihre sechs Geschwister dreht, die eine wahrlich erschütternde Kindheit hinter sich haben. Die Kinder hatten zunächst eine relativ glückliche Kindheit, doch als der Vater nach und nach seine Jobs verlor und auch seine Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe, wurde ihr Alltag ebenso wie seine Laune immer schlimmer. Der Familie fehlte es an Geld, und die Kinder können unter sich unter anderem nur einmal die Woche mit kaltem Wasser duschen. Essen ist ebenfalls ein Luxus, den es nicht immer gibt, und je nachdem, wie „ungezogen“ eines der Kinder war, konnte es auch schon mal mehrere Tage ohne Essen bleiben. Lex und Evie, ihre kleine Schwester, teilen sich ein Zimmer, und während sie an guten Tagen durch das Haus laufen können und essen dürfen, werden sie während schlechten Perioden an ihre Betten gekettet und bekommen nichts. Das Zimmer steht vor Dreck – schimmliges Geschirr, Essensverpackungen und sonstiger Dreck tummelt sich auf dem Gebiet zwischen den beiden Betten, und die Schwestern durchforsten es (wenn die Ketten es erlauben) nach Essbarem oder Spielzeug. Und eines Tages, als Lex einen Plan schmiedet, um dem traurigen Schicksal zu entkommen, sucht sie dort nach einer Waffe.
Seine Hand schloss sich um meinen Hals. Zwischen seinen Armen sah ich, dass Evie an ihren Ketten zerrte, ihr ganzer Körper angespannt. Sieh nicht hin, wollte ich sagen. Das wirst du nie wieder los. […] »Willst du sterben?«, sagte Vater. »Willst du sterben und zur Hölle fahren?« Er stieß mich zurück auf die Matratze. Es hatte keinen Sinn mehr, irgendwas vorzuspielen, und ich lachte. Wo sind wir denn jetzt?«, rief ich. »Na los. Wo sind wir jetzt?«
Der Anfang der Geschichte, der den Gefängnisbesuch Lex‘ nach dem Tod ihrer Mutter erzählt, machte es mir schwer, so richtig in das Buch reinzukommen. Erst nach und nach entschloss sich mir das Geflecht aus Personen, und als ich tiefer abtauchte, entfaltete der Horror sich erst richtig.
Man braucht also definitiv etwas Geduld, wenn man die Geschichte von „Girl A“ in ihrer Gänze erfassen möchte. Die Abschnitte des Buches sind dabei so unterteilt, dass sie bestimmte Geschwister in ihrer Gegenwart und in der Vergangenheit verfolgen und wir mehr und mehr von dem mitbekommen, das sich hinter verschlossenen Türen abgespielt hat. Durch die zwei Zeitstränge sieht man auch sofort, wie die Geschwister mit ihren bleibenden Schäden, die unvermeidlich sind, umzuzgehen versuchen. So lernen wir Ethan kennen, Lex‘ älteren Bruder, während Lex alle ihre Geschwister aufsucht, um das Erbe ihrer Mutter abzuklären. Ethan war in Kindertagen der Liebling des Vaters und hat für diesen einige Dinge getan, die mich bei der Lektüre richtiggehend schockiert haben. Doch anstatt sich aufgrund dessen schlecht zu fühlen, hat er sich zu einem cholerischen, hinterhältigen Menschen entwickelt, der Lex bedroht – von Geschwisterliebe oder dem Glück, entkommen zu sein, kann also keine Rede sein.
Fazit: Dadurch, dass Lex gezwungen ist, sich mit ihren Geschwistern (die sich größtenteils entfremdet haben) auseinanderzusetzen und auch das Familienhaus, das ihnen vererbt wurde, erneut zu betreten, werden Dinge in ihrer Erinnerung losgetreten, die sie lieber für immer vergessen hätte. Abigail Dean erzählt diese Geschichte dermaßen spannend, dass ich gar nicht mehr aufhören konnte zu lesen. Die Kapitel aus den verschiedenen Perspektiven und Zeitsträngen verweben sich zu einem schaurigen, entsetzlichen Ganzen, und so bliebt mir die Story noch lange Zeit später im Kopf. Jeder, der gerne unangenehme Geschichten liest, wird an diesem Buch seine Freude (ist vielleicht das falsche Wort) haben.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom HarperCollins Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Abigail Dean / Girl A / HarperCollins / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 512 Seiten / ISBN: 9783749901050 / Erschienen am 20.04.21 / zur Verlagsseite
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