Eine bunte Mischung an vermeintlichen Sci-Fi-Storys, die auf den zweiten Blick jedoch erschreckend realitätsnah sind.
A twisted, exhilarating and darkly strange vision of our time, explored in thirteen interconnected episodes. Whatever the neighbours insisted would be worth keeping a body for, he always responded that he would still prefer to live as data. A young woman abducts a child – her own – from a government-run childcare facility. The citizens of Plainfield, Texas, have had it with the United States. So they decide to secede, rename themselves America in memory of their former country, and set themselves up to receive tourists from their closest neighbour: America. The stories in Matthew Baker’s collection portray a world within touching distance of our own. This is an America riven by dilemmas confronting so many of us – from old age to consumerism, drugs to internet culture – turned on its head by one of the most darkly innovative and defiantly strange voices of the moment.
„Why Visit America“ von Matthew Baker hat mich aufgrund seines hypnotischen Covers in seinen Bann gezogen, und ich hatte auch wieder mal richtig Lust auf Kurzgeschichten, vor allem, wenn es welche aus dem Bereich Sci-Fi/Dystopien sind. Doch diese Labels würden diesen Erzählband nur darauf begrenzen, dabei ist er so viel mehr: Eine Studie zu unserem Leben, wie wir es heute leben, unserer Ideen, Träume und Wünsche. Der Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit und einem Leben ohne Fußabdruck jeglicher Art spiegelt sich genauso wieder wie Gedanken zum Thema Bewusstseinsupload, Pandemien oder Einwanderern. Dabei beleuchtet der Autor nicht immer die Seite, die wir vielleicht erwartet hätten. Zum Beispiel wird im Kapitel „Testimony of your Majesty“ erzählt, wie sich eine Gesellschaft, die sich strikt an Minimalismus und Minimal Waste hält, aus der Perspektive einer reichen Person anfühlt. In dieser Welt gilt die perfekte Ratio von Besitz zu Mensch 100:1, und unsere Protagonistin liegt bei weit über 4.000. Ihre Familie zelebriert regelmäßig Shoppingtrips, bei denen jede Menge Unfug gekauft wird. Das Mädchen hingegen wird in der Schule für ihre neuen Sachen gemobbt und ausgeschlossen. Aber sie kann sich nicht vom Konsum losreißen. Es ist äußerst spannend, ihren internen Kampf mitzuverfolgen, wie sie von ihrem direkten Umfeld fast schon zum Shoppen genötigt wird, sie aber durch einen Teufelskreis aus Wegwerfen, um die Ratio zu erreichen, und Kaufen, um das Loch in ihrem Inneren zu füllen, immer mehr in die Depression rutscht. Ein wenig wiedererkannt habe ich mich schändlicherweise auch in ihrem Verhalten, denn der Druck vom Kapitalismus, mehr zu kaufen, ist da, aber auch die Gegenbewegung Nachhaltigkeit und Zero Waste ist sehr präsent.
Being rich seemed like a curse. I fantasized about being born poor, jealous of the kids at school who had low ratios simply by virtue of not having enough money to buy surplus belongings. […] Being rich required actual self-control.
Auch die anderen Kurzgeschichten sind nicht weniger augenöffnend. Da gibt es die Geschichte um Mason, der seiner Familie beichtet „I don’t belong in a body“, und dass er die Transition vornehmen möchte – also sein Bewusstsein ins Internet hochladen lasse will. Wir als Leser verfolgen dabei nicht nur Masons innerste Gedanken, denn der Fokus schwenkt um und wir erleben, wie seine Familie diese Hiobsbotschaft aufnimmt und damit umgeht.
In „Lost Souls“ werden auf der ganzen Welt „leere“ Babys geboren – Babys ohne Seele, deren Körperfunktionen zwar da sind, die aber nach wenigen Minuten sterben. In dieser Geschichte befasst Baker sich damit, was wir bereit sind, für unseren Glauben zu geben. Die Menschen innerhalb dieser Story geben alles. Sie töten sich gegenseitig und schlachten ebenfalls Tiere in Massen ab, um mehr „verfügbare“ Seelen für die Babys bereitzustellen. Doch die Epidemie zieht weite Kreise und lässt die Menschen verzweifelte Taten unternehmen. In einem Geburtshaus befinden sich komatöse oder einfach sehr alte Menschen im selben Raum wie die werdenden Mütter, und sobald die Wehen anfangen, wird bei einem der alten Menschen der Stecker gezogen, die Türen geschlossen, sodass die Seele gar nicht anders kann, als sich in das Baby einzufinden. Gruselig.
The number of humans being born each day now appeared to be approximately equivalent to the number of humans who were dying, stabilizing the global population at just over thirteen billion. […] Still, despite the overwhelming evidence to the contrary, an idea soon spread that killing animals might somehow liberate souls that could be used by human babies. Nowhere was this idea as infectious as in America. […] The bodies were heaped into piles as high as haystacks.
Trotz oder gerade aufgrund der verschiedensten Thematiken haben mir drei oder vier der Geschichten aus der Mitte nicht so zugesagt; dies hat der Autor mit mehreren guten Storys gegen Ende wieder wett gemacht. Wir treffen Menschen, die in einem Matriarchat leben, bei denen die Frauen ausschließlich künstlich befruchtet werden und auf der gesamten Erde nur knapp 100.000 Männer leben, die in Gefangenschaft leben und einzig und allein dem Amüsement der Frauen dienen. Für mehr Gleichberechtigung setzt sich auch die titelgebende Story „Why Visit America“ ein, die von einer Mikronation mitten in den USA handelt, die sich von ebendieser abgetrennt hat. Da jetzt die Chance besteht, das Gesetz in eigene Hände zu nehmen und selbst zu gestalten, gibt es eine Volksversammlung, bei der jeder beitragen kann, was ihn an den USA bisher gestört hat und wie man das nun als eigenständige Nation ändern könnte:
I don’t […] understand why there has to be separate titles for us based on what genitals we have. Mr., Mrs., that’s what those titles are saying. ‚Honored person with a penis.‘ ‚Honored person with a vagina.‘ I mean, all of the possible information about a person you could attach to a title, why is sex the information that we include?
Ich könnte wirklich zu fast jeder der 13 Kurzgeschichten lang und breit erzählen, aber ich will euch das Lesevergügen ja nicht nehmen. Der Autor wirft so viele verschiedene Thematiken auf, die zu Beginn der jeweiligen Kurzgeschichte vielleicht noch fremd wirken, sich in deren Verlauf allerdings meistens unangenehm realitätsnah anfühlen. Wie bspw. die Geschichte mit dem Minimalismus. Die Themen Umwelt und deren Vereinbarkeit mit der menschlichen Spezies kommt allerdings mehrmals zum Tragen, was ich auch wichtig finde und ebenfalls augenöffnend. In „Rites“ wird die aus der Science-Fiction bekannte Idee, dass Menschen ab einem gewissen Alter sterben müssen, um Platz für die neue Generation zu machen, aufgegriffen. Wir verfolgen hier eine ältere Person, die sich weigert, sich ihrem Schicksal zu ergeben und bereits von Restaurants nicht mehr bedient wird und seine Lebensmittel im Supermarkt nur noch zu immens erhöhten Preisen kaufen kann. Er wird zu sozialem Abschaum degradiert, weil er sich dem vermeintlichen Allgemeinwohl nicht beugen will. Selbst seine Familie steht seiner Verweigerung kritisch gegenüber und drängt ihn zum Tod:
You can’t keep on, just, consuming resources, creating waste, without contributing anything to society. There are eleven billion of us on this planet. A family planning policy helps prevent drought, prevent famines, wars over energy. By stalling, you’re hurting everybody, you’re hurtin my generation, you’re hurtin the kids‘ generation, you’re hurting their kids.
Als letztes möchte ich euch noch eine Geschichte anreißen, die mich gehörig zum Nachdenken angeregt hat: „To be read backward“ erzählt eine tragische Geschichte, jedoch ist irgendetwas anders. Nach und nach versteht man, dass das Leben der Menschen in dieser Story rückwärts abläuft. Der Hund wird unter den Reifen eines Autos geboren, die Kinder müssen aus einem Gebäude abgeholt werden, das sich aus dem Staub wie von selbst zusammenzusetzen scheint. Unser Protagonist bewegt sich in dieser seltsamen Welt und grübelt immerfort über die vierte Dimension, die Zeit. Dabei entspinnt sich eine wahnsinnig interessante Story und seine Gedankengänge sind ebenfalls bemerkenswert.
When the mania would hit, I couldn’t sit still, brushing the color from my paintings, stroke by stroke, down to the umber, down to the gesso, the down to the canvas itself, until the canvas was blank and empty and pure, leaving me to start on another.
So, und bevor ich weiter ausschließlich den Inhalt paraphrasiere, noch ein paar Worte zum Erzählstil: Matthew Baker schafft es, dass scheinbar banale Themen oder Ideen zu wirklich bemerkenswerten Konzepten heranwachsen. Fast jede Geschichte war sehr emotional für mich und hat sich mit spannenden Ideen und wertvollem Gedankengut in mein Hirn gebrannt. Auch, wenn sich die knapp 370 Seiten irgendwie sehr gezogen haben und ich für die Lektüre gut einen Monat (mit Parallel-Lektüren, versteht sich) benötigt habe, war diese Zeit sinnvoll investiert und dank der fulminanten letzten Story habe ich „Why Visit America“ auch mit einem wahnsinnig guten Gefühl beendet.
Fazit: Eine tolle Kurzgeschichtensammlung! An einige Storys musste ich auch lange nach der Lektüre noch denken und das Gedankengut aus der letzten Geschichte wirbelt noch in meinem Kopf umher. Wer dystopische, aber trotzdem realitätsnahe Storys mag, die von alternativen Gesellschaftsmodellen erzählen, ist hier richtig!
The United States has gone to hell, Sam.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise von Netgalley und Bloomsbury als digitales Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Matthew Baker / Why Visit America / Bloomsbury Publishing / Hardcover, 368 Seiten / ISBN: 9781526618382 / Erschienen am 04.08.20 / zur Verlagsseite
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