Genial, sprachgewaltig und ein echtes Must-Read – der zweite Streich des Wortmagiers ist da!
Ein kleines abgelegenes Dorf. Es gehört den Menschen, die dort leben, ihren Freuden und Sorgen, ihrem Alltag und ihren Legenden. Doch es gehört auch dem mythischen Altvater Schuppenwurz, der aus seinem Schlaf erwacht ist, dem dörflichen Treiben zusieht und lauscht, immer auf der Suche nach seiner Lieblingsstimme: der von Lanny. Der neue Roman von Max Porter ist eine bewegende Warnung davor, was wir zu verlieren haben, und eine Hymne an alles, was wir nie ganz verstehen werden.
2018 machte Max Porter mit seinem Debütroman „Trauer ist das Ding mit Federn“ ganz schön Furore in meiner Bubble – einigen war der Stil jedoch zu derb, zu zerhackstückelt, für wieder andere (mich eingeschlossen) war Porters dünner Roman ein Feuerwerk, ein frischer Wind in der festgefahrenen Belletristik, die ich um diese Zeit herum gelesen habe. Porters Debüt handelte von den ältesten Themen der Zeit: Liebe und Tod. Nun ist letzten Monat Max Porters neuer Roman „Lanny“ erschienen, der erneut ein fulminantes Erzähltempo vorlegt und als wahres Fest zwischen den ganzen Neuerscheinungen heraussticht. Und ebenso wie sein Vorgänger die grundlegenden Themen der Menschheit anspricht. Doch von vorne: Es geht um den titelgebenden Lanny, ein schrulliger, sprachbegabter Junge, der sich ständig im Singsang mit sich selbst und der Natur befindet und furchtlos die höchsten Bäume erklimmt. Lannys Mum, die Krimiautorin ist, kommt die wunderbare Idee, dass Lanny doch bei dem 80-jährigen Pete, dem eigenbrötlerischen Künstler des Dorfs, doch ein paar Stunden Kunstunterricht nehmen könnte. Aus dieser zunächst merkwürdig anmutenden Idee – kam Pete doch in das Dorf, um sich zurückzuziehen – entsteht eine unerwartete Freundschaft zwischen ihm und Lanny. Die beiden sind gut füreinander und Lanny lernt nicht nur das grundlegende Kunsthandwerk, sondern auch einiges über das Leben – Pete hat schließlich bereits einige Jährchen hinter sich. Doch spätestens, als Lanny plötzlich verschwindet, wird gemunkelt, diese Freundschaft wäre unnatürlich; ein vermeintlich Schuldiger ist schnell gefunden.
Ich denke an mein schlafendes Baby nebenan. Oder vielleicht schläft Lanny gar nicht. Vielleicht tanzt er im Garten mit Elben oder Kobolden. Wir nehmen an, dass er wie jedes normale Kind schläft, aber er ist kein normales Kind, er ist Lanny Greentree, unser kleines Enigma.
Obwohl „Lanny“ sich von Max Porters erstem Roman von der Geschichte her unterscheidet, greift der Autor hier wieder zu bereits bekannten Themen und setzt sie mit seiner bewährten, wunderbaren Schreibtechnik um. Leser werden sich an die Trennung der verschiedenen Perspektiven bzw. Bewusstseinsströme von „Trauer ist das Ding mit Federn“ erinnern, an die Erzählstimme eines Kindes und die oftmals explizite Sprache, die abstoßende Dinge beschreibt (»[…] dann schrumpft er, schlitzt sich mit einer rostigen Dosenlasche einen Mund, saugt eine nasse Haut aus saurem Mulch und saftigen Würmern an«). Die elterliche Liebe, der Wunsch, zu beschützen, all das findet sich in „Lanny“ wieder. Sogar die Rolle der Krähe, die in Porters Debüt über die Familie wacht, bekommt ihren Auftritt in „Lanny“: als Altvater Schuppenwurz, dem nicht so freundlichen Wald- und Dorfgeist, der unter/über/in „seinem“ Dorf alles hört, sieht und schmeckt, was sich dort so abspielt. Altvater Schuppenwurz lässt den Leser all die Gesprächsfetzen des Dorfes hören, das nach außen ganz friedlich wirkt, im Inneren jedoch den üblichen Tratsch und die Hetzereien liefert. Der Bewusstseinsstrom von Schuppenwurz wird im Buch auf eine besondere Art und Weise dargestellt, die beim Durchblättern sofort ins Auge fällt: Die Gedanken- und Sprachfetzen ordnen sich keinem geradlinigen Satz- und Layoutzwang unter, sondern wabern durch den Raum. Im weiteren Verlauf der Geschichte erfahren wir außerdem, dass Altvater Schuppenwurz, der auch als Totpapa Schuppenwurz bezeichnet wird, überall ist und dass es grausige Geschichten gibt von Leuten, die ihn gesehen haben wollen.
Folge nur brav und bete recht fromm, dass dich Totpapa Schuppenwurz nicht holen kommt.
Trotz oder gerade wegen all dieser Parallelen, die man zu seinem Debüt ziehen kann, fühlt sich Max Porters neuer Roman an wie Nachhausekommen; man schlägt die erste Seite auf, landet im Gedankenwirrwarr von Altvater Schuppenwurz und taucht tief ein, nur um nach dem ersten Teil des Buches kurz zum Luftholen nach oben zu kommen. Denn Max Porter lässt uns keine Verschnaufpause; während der erste Part des Buches noch ein Plätschern der Handlung ist, gespickt mit kuriosem, gruseligen Gedankenfetzen von Schuppenwurz, nimmt der zweite Part einiges an Tempo auf und erlaubt dem Leser keine Atempause, bis das Ende erreicht und das Rätsel um Lannys Verschwinden gelöst ist.
Fazit: Wow. Ich habe lange kein Buch mehr so verschlungen. Der Schreibstil von „Lanny“ ist ungewöhnlich, verschlingt den Leser aber trotzdem mit Haut und Haar. Die Geschichte, die aus der Perspektive von Lannys Eltern, Pete und Altvater Schuppenwurz erzählt wird, ist eigentlich kein neues Garn, Max Porter schafft es jedoch, ein unvergessliches Lese-Erlebnis daraus zu stricken.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Kein & Aber Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Max Porter / Lanny / Gebundenes Buch, 224 Seiten / ISBN: 978-3-0369-5793-7 / Erschienen am 11.03.19 / zur Verlagsseite
Weitere Meinungen
Wow, du hast mir darauf Lust gemacht – ich kannte Max Porter noch nicht!!!