Ein mysteriöser Container, Ermittlungen der Bundespolizei und Langeweile in Kanada — eine kuriose Mischung, die aber funktioniert!
Aus einem verlorenen Trailerpark im Süden Québecs will die fünfzehnjährige hochbegabte Tüftlerin Lisa ausbrechen. Éric ist der Einzige, der sie versteht. Doch wegen seiner chronischen Platzangst hat der junge Hacker das Haus seit Jahren nicht verlassen. Gemeinsam schmieden sie einen tollkühnen Plan, der Lisa auf die ungewöhnlichste Weltreise seit Jules Verne schickt. Dabei spielt ein mysteriöser Container, der wie von Geisterhand auftaucht und wieder verschwindet, eine Schlüsselrolle. Die ehemalige Kreditkartenbetrügerin Jay wird Lisas Fährte aufnehmen. Ein globales Gesellschaftsspiel beginnt, bei dem es um das höchste und meistbedrohte Gut geht: die Freiheit. (zur Verlagsseite)
Als „Die sechs Freiheitsgrade“, der neue Roman von Nicolas Dickner, bei mir einzog, wusste ich noch nicht, worauf ich mich eingelassen hatte. Der Klappentext roch jedenfalls nach Abenteuer! Lisa und Éric wohnen schon immer im Trailerpark „Domaine Bordedom“, wie ein Graffito verlauten lässt, und leben beide ihr eigenes, kleines Leben. Lisa versucht immer wieder den agoraphoben Éric aus dem Haus zu locken und überlegt sich ständig neue Dinge, die zu erledigen sind — in der Natur. Doch Éric hängt viel lieber vor seinem Computer und programmiert und hackt sich durch die Weltgeschichte (von seinem Schreibtisch aus). Doch als Érics Mutter sich neu verliebt und er mit ihr nach Kopenhagen zieht, bleibt Lisa zurück. Zunächst kann sie ihr Fernweh verbergen, denn gemeinsam mit ihrem Vater Robert bringt sie alte Häuser wieder auf Vordermann – ein Knochenjob. Als Lisa einige Zeit später nach Montreal zieht, um zu studieren, beginnt die Gesundheit ihres Vaters, nicht mehr mitzuspielen. Er wird immer vergesslicher, mauert regelmäßig sein Werkzeug versehentlich ein und scheint ohne fremde Hilfe nicht mehr klarzukommen. Lisa ist gezwungen, zu pendeln, während Éric sich in Kopenhagen ein kleines Firmenimperium aufgebaut hat. Und dann kommt Lisa eine Idee, die sie weit hinaus in die Welt und raus aus ihrem festgefahrenen Leben herauskatapultiert…
Klingt bereits spannend? Gut! Denn das ist nur der eine Handlungstrang! 😀 Auf der anderen Seite verfolgen wir Jays Geschichte, die nach einigen Identitätsdiebstählen bei der Bundespolizei für Wirtschaftsbetrug arbeiten muss, bis ihre Strafe abgelaufen ist. Dort verfolgt sie unter anderem oder vielmehr besonders „Papa Zulu“, einem Container, der quer durch die Welt reist und sobald er irgendwo auftaucht, auch schon wieder verschwunden zu sein scheint. Jays Ermittlungen führen sie zur Domaine Bordeur…
Im Alter von siebenundsechzig Jahren ist Robert Routier mit einem Mal alleine. Er gibt sich souverän. Nie würde er anderer Leute Hilfe brauchen, um seine Nudeln zu kochen und seine Socken zu bügeln. […] Ende Januar fängt er sich einen Virus ein.
„Die sechs Freiheitsgrade“ erzählt die Geschichte mehrerer Charaktere, die zu Beginn des Buchs keine Verbindungspunkte zu haben scheinen, doch der anfängliche Schein trügt! Nicolas Dickner schafft es, mit einer locker-leichten Sprache, einigen echt humorigen Passagen und einer spannenden Verfolgungsjagd und mit Ermittlungs-Action ein Szenario aufzubauen, das glaubhaft ist und dessen Charaktere fein gezeichnet sind. Die Krankheit von Lisas Vater hat mich, obwohl sich Lisa damit nicht allzu wehmütig zu beschäftigen scheint, sehr mitgenommen und es gab eine Szene, wo dann doch die Dämme gebrochen sind. Dass Lisa mit der Situation so gelassen umgeht und ihren Vater ohne Probleme in ein Pflegeheim steckt, fand ich doch ziemlich krass. Jay hingegen reflektiert mit ihren 39-fast-40 Jahren ständig ihre Vergangenheit, ihr bisheriges Leben und das, was noch folgen wird. Sie erscheint mir als einziger Charakter in diesem Buch sympathisch — von Lisas Vater einmal abgesehen.
Das Buch braucht einige Zeit, bis das Setting aufgebaut ist, und in den ersten 100 Seiten passiert nicht viel. Die Charaktere werden eingeführt, es wird sich Zeit genommen, das Setting zu beschreiben, und das Buch hat eine mehr beschreibende Funktion. Aber dann nimmt die Handlung Fahrt auf und man findet sich in einem verrückten Spionage-Abenteuer wieder.
Die Anzahl der auf einem Facebook-Account veröffentlichten Katzenbilder verhält sich antiproportional zu der Wahrscheinlichkeit, dass der Nutzer ein Terrorist ist.
Fazit: Dickner hat hier einen – sobald er „richtig“ losgeht – spannenden Roman vorgelegt, der sich nicht nur um das Fernweh dreht, sondern auch um generelle Aspekte der Freiheit: Lisa ist in ihrem Leben gefangen, an ihren Heimatort gefesselt, da sie sich um ihren Vater kümmern muss; Éric ist gefangen in seinen vier Wänden; Robert in seiner Krankheit und Jay ist durch ihre gerichtliche Strafe gefangen in Montreal und hat noch zwei Jahre, bis ihr Leben einen normalen Weg einschlagen kann. Ein sehr interessantes Konzept, das jedoch aufgrund der Längen (besonders am Anfang) und der leicht unsympathischen Protagonistin Lisa nicht hundertprozentig überzeugen konnte. Gern hätte ich noch viel mehr über Roberts Geschichte gehört, doch sein Leiden wurde in wenigen Seiten abgehandelt, was wirklich schade war. Alles in allem gibt es eine leicht eingeschränkte Leseempfehlung von mir!
Zum Buchtitel: Der Begriff der Freiheitsgrade wird in der Technik, Robotik und bei Computerspielen verwendet und beschreibt die Bewegungsfähigkeit eines starren Körpers: Bewegung entlang der X/Y/Z-Achse (vor/zurück, rauf/runter und links/rechts) plus Rotationsbewegungen. Mehr dazu findet ihr bei Wikipedia.
Dieses Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise von der Frankfurter Verlagsanstalt zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Nicolas Dickner, Die sechs Freiheitsgrade. Frankfurter Verlagsanstalt Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 320 Seiten ISBN: 9783627002398 Erschienen: 30.08.2017