Eine Geschichte über genialische Wissenschaft, Scheitern und Erfolg und dem Streben nach Anerkennung – großartig erzählt und fantastisch umgesetzt.
Die Zahlen sind Olivers Zuflucht. Die Mutter ist schon kurz nach seiner Geburt im Sommer 1989 aus der sächsischen Kleinstadt abgehauen, der Vater straft ihn mit Gleichgültigkeit. Mit siebzehn erfährt Oliver zum ersten Mal Anerkennung, als er bei der Mathematik-Olympiade in Montreal eine Auszeichnung erhält. Danach ist alles anders – und doch nichts besser. Zwar werben die angesehensten Institutionen um ihn, und er kann sich seinen Wunsch erfüllen: am größten Problem der Mathematik, dem Geheimnis der Primzahlen, zu arbeiten. Doch diese Aufgabe treibt ihn in die Abgründe seiner Existenz. Bis ihn die Physikerin Ina aus seiner Einsamkeit rettet.
Patrick Hofmanns „Nagel im Himmel“ ist bei vielen offensichtlich in der Flut der Neuerscheinungen vorbeigerauscht, denn bisher konnte ich dazu noch nichts lesen. Ein Grund mehr, dass ich euch dieses wahnsinnig tolle Buch einmal genauer vorstelle! Wie ihr bereits im Klappentext lesen könnt, geht es um das junge Mathematikgenie Oliver. Wir begleiten ihn durch seine doch sehr einsamen Kindheits- und Jugendtage bis hin zu seinem Erwachsenenalter. Die Mathematik ist während all dieser Zeit sein treuer Begleiter – die Einsamkeit allerdings auch. Oliver war immer schon ein Einzelgänger, der nicht wusste, wie er mit anderen Menschen umgehen soll, und sein Mathematikstudium hat ihn vollends in einen Eremiten verwandelt. Alles, womit er sich tagein, tagaus beschäftigt, sind die Primzahlen. Denn Oliver hat sich zum Ziel gesetzt, das größte Problem der Mathematik zu lösen. Daneben sind die Avancen einer Bekannten natürlich wenig relevant, auch die Empfehlungen seines ehemaligen Doktorvaters, sich doch mehr unter Leute zu begeben und sich Hobbys zu suchen, sind nur begrenzt von Erfolg gekrönt. Oliver wünscht sich nämlich nichts sehnlicher als die ihm von familiärer Seite verwehrt gebliebene Anerkennung.
79, 83, 89, 97. Er hatte immer gezählt. Zahlen waren seine ersten Wörter gewesen. […] Viel zu ihm gesprochen hatte niemand. Oder ihn gehalten; länger gehalten als nötig. Solche Berührungen ließen sich zählen. Und zählen half. Die Zahlen halfen. Denn sie waren immer da.
„Nagel im Himmel“ beginnt in der wenig frohen Kindheit des Protagonisten und arbeitet sich chronologisch immer weiter voran. Der Leser erfährt viel über das zugegeben etwas befremdliche Familienleben Olivers, das sich stilistisch auch vom Rest des Romans abhebt: Hier wird diskutiert, geschimpft und vor allem gesächselt – was für einige Leser vielleicht abschreckend wirken mag, aber Durchhalten wird hier definitiv belohnt! Die Familie verbringt ihre freie Zeit grillend mit Bier und Schnaps im Garten und früh merkt man, dass Oliver der Erste ist, der eine höhere Bildung genießt und später ja sogar studiert bzw. Professor wird. Und obwohl er seine Familie verachtet und nie Zuneigung oder Anerkennung durch sie erfahren hat, kehrt er im Laufe seines Lebens immer wieder zurück in das kleine Dorf, in den Garten, wo sich Familie und Freunde treffen.
Patrick Hofmann hat es geschafft, mich bereits ab der ersten Seite zu fesseln, sodass ich das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen wollte. Und als die letzte Seite umgeblättert war, hätte ich Olivers Leben trotzdem noch gerne weiterverfolgt – auch, wenn die letzten Kapitel sicherlich nicht leicht zu ertragen waren. „Nagel im Himmel“ fasst Olivers (wenn man das so sagen möchte) Olivers erste Lebenshälfte in knapp 300 Seiten zusammen, und genau deshalb wächst er dem Leser auch so ans Herz. Man hat verfolgt, in welcher lieblosen Umgebung er aufwuchs, wie er bereits in seinen jungen Jahren um Anerkennung jedweder Art kämpfte und früh seinen Traum entdeckte – das Geheimnis der Primzahlen zu lüften. Wir beobachten ihn bei seinem ersten Rausch, bei seinen Highs und Lows und wünschen ihm von ganzem Herzen, dass er es schafft, dass ihm die Anerkennung zuteil wird, die er verdient. Deshalb war ich auch sehr traurig, als ich das Buch beendet habe und damit nicht mehr an Olivers Leben teilhaben konnte. Allein diese Tatsache spricht glaube ich dafür, dass der Autor Oliver, sein Leben und alle Figuren drum herum so großartig illustriert hat, dass man meinen könnte, man lese eine Biographie.
Wenn man stirbt, wird man nicht mehr älter. Aber was passiert dann? Viele Menschen dachten, wie Toten wären ewig tot. Für immer. Oder bis zum jüngsten Tag. Aber das stimmte nicht. Man war nur eine Weile tot. Ein paar Jahre. Tot war man für die, die mit einem gelebt hatten. Und blieb es, solange die anderen, die Mitmenschen, noch lebten und sich erinnerten. Der Tod war an geteiltes Leben gebunden.
Fazit: Das Leben eines jungen Mathegenies von der Kindheit bis in seine Dreißiger – wunderbar erzählt, kurzweilig und ungemein emotional nimmt uns Patrick Hofmann mit durch Höhen und Tiefen, Scheitern und Erfolg eines Mannes, der alles gibt, um eine Spur auf der Welt zu hinterlassen.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Penguin Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Patrick Hofmann / Nagel im Himmel / Penguin Verlag / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 304 Seiten / ISBN: 978-3-328-60128-9 / Erschienen am 09.03.20 / zur Verlagsseite