Ein Jahrhunderte umspannendes, episches Werk, das dem Leser einiges an Aufmerksamkeit abverlangt – dafür aber mit einer nachklingenden Wucht belohnt.
Liebesgeschichte – Kriminalgeschichte – Science-Fiction. In seiner Trilogie »CoDex 1962« zieht der Isländer Sjón alle erzählerischen Register. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs begegnen sich in einem norddeutschen Gasthof das Zimmermädchen Marie-Sophie und der jüdische Flüchtling Leo Löwe, mit dabei ein Lehmklumpen. Aus diesem erschafft Leo das gemeinsame Kind Josef, da ist die Familie aber schon längst in Island, und wir sind bereits im Jahr 1962, dem Geburtsjahr des Autors Sjón. Der große isländische Erzähler entführt uns in ein unendliches Vexierspiel, in dem vieles Rätsel ist und bleibt und anderes sich auf geniale Weise zusammenfügt. »CoDex 1962« ist eine isländische »Tausendundeine Nacht«, eine Wundertüte an Geschichten.
Dieses Buch hat mit seinem hypnotischen Cover in den Verlagsvorschauen meinen Namen gerufen, mich dann aber mit seiner Dicke eingeschüchtert, weshalb ich es etappenweise gelesen habe, mit längeren Pausen dazwischen. 20 Jahre hat Sjón an diesem Werk, an diesem Klöpper, geschrieben, und das merkt man auch. „CoDex 1962“ ist in drei Teile unterteilt, die wie kurze Romane eigene Titel tragen und in Genres eingeordnet sind: eine Liebesgeschichte, ein Krimi und ein Science-Fiction-Roman. Pauschal zu sagen, worum es in diesem Buch geht, ist bereits aufgrund der Einteilung mehr als schwierig. Während man die Liebesgeschichte, „Deine Augen sahen mich“, noch relativ gut nacherzählen kann, wird es bei den anderen beiden Mini-Romanen schwierig. Im ersten Teil geht es jedenfalls um Leo Löwe, ein Geflüchteter des zweiten Weltkriegs, der sich 1941 aus einem KZ gerettet und Zuflucht in einem Hotel in Kükenstadt gefunden hat. Eine junge Frau wird dazu verdonnert, ihn gesund zu pflegen, und wie die Dinge eben so laufen, verlieben sich die beiden ineinander und schenken einem magischen Klumpen Lehm das Leben. Nebenbei wird allerdings noch eine weitere Geschichte um den Erzengel Gabriel erzählt, die ich euch leider nicht rekapitulieren kann, da ich nicht viel davon verstanden habe.
Der Kriminalroman, „Islands tausend Jahr'“, beginnt mit Leos beschwerlicher Reise nach Island, den Golem in einer Hutschachtel mit dabei. Sein goldener Siegelring, mit dem er das Lehmbaby zum Leben erwecken kann, wird ihm dort allerdings gestohlen, und so muss Leo viele Hürden auf sich nehmen, um diesen wiederzuerlangen. Es geht um Briefmarken, isländische Bürokratie, und Werwölfe. Parallel lernen wir viel über Islands Mythen und Märchen, beispielsweise das um einen riesigen Troll, der ein paar Hühner hat und auf den Geschmack von Eiern kommt… Da möchte ich gar nicht weiter ausführen, diese Geschichte fand ich wirklich widerlich – wer das Buch liest, kann diese paar Seiten getrost überspringen!
Vom ersten Moment meines Lebens an waren meine fünf Sinne vollkommen: meine Augen sahen, meine Ohren hörten, meine Nasenlöcher nehmen Geruch auf, Geschmack überzog meine Zunge, meine Haut spürte die Berührung mit Festem und mit Gasförmigem. Was ich wahrnahm, sog ich gierig auf. Und mit Worten kann ich dich in jede erdenkliche Zeit und an jeden erdenklichen Ort versetzen, der in meinem kristallklaren Gedächtnis gespeichert ist. Ich bin eine Zeitmaschine.
„Ich bin eine schlafende Tür“, der Science-Fiction-Roman und zugleich auch der Teil, auf den ich mich am meisten gefreut habe, dreht sich nun um den Erzähler des gesamten bisherigen Buches, Joséf Löwe. Dieser ist nämlich 1962 prompt zum Leben erwacht, als Leo seinen Siegelring (wenn auch in etwas anderer Form) zurückerlangt hat. Doch zum ersten Mal verlassen wir die Familie Löwe als Fokus und andere Charaktere drängen sich mal mehr, mal weniger in den Fokus der Erzählung. So beispielsweise der Autor Sjón und seine metaphorischen Brüder und Schwestern, die ebenfalls 1962 geboren wurden. Nachdem sich eine nukleare Katastrophe ereignete, sind nämlich sehr viele Kinder dieses Geburtsjahres missgebildet. Und so lernen wir nicht nur den Autor höchstpersönlich kennen, sondern unter anderem auch eine mysteriöse junge Frau, deren Körper von leuchtend blauen Schuppen überzogen ist, oder einen Genforscher, der das Projekt CoDex 1962 ins Leben gerufen hat, um all diese Kinder mit Missbildungen zu untersuchen.
So viel zum Inhalt. Aber nicht nur der ist sehr speziell, sondern auch die Art und Weise, wie Sjón seine Geschichten erzählt – wie er sehr viele verschiedene Erzählstränge in „CoDex 1962“ wie eine Wundertüte hineingewoben hat und diese nach Belieben abschließt oder die Fäden hängen lässt, ist wirklich meisterhaft – verlangt dem Leser allerdings auch einiges an Konzentration an. In einem Interview zu seinem englischsprachigen Release sagte der Autor „Let the reader to the work“ – und ich finde, das sagt schon alles über den Klops, den ich hier vor mir habe. Als Leser ist es fast schon Detektivarbeit, das große Ganze zu sehen, wie alle Geschichten doch irgendwie ineinandergreifen. Dass manchen Erzählstränge, beispielsweise der des Erzengels Gabriel, relativ viel Raum innerhalb Buch 1 gegeben wird, kann daher schon verwirren: Ist diese Geschichte jetzt relevant für das weitere Geschehen, lernen wir hier einen weiteren wichtigen Charakter kennen? Oder gehört dies nur zum Geplänkel am Rand der Hauptstory? Hier muss der Leser wirklich geduldig und vor allem aufmerksam sein.
Die Zeit wurde vor drei Jahren ermordet. Himmel und Hölle sind geschlossen, die Posaune wird nicht schmettern, keine Engel werden auf die Erde hinabsteigen, keine Teufel sich aus der Tiefe erheben, die Toten liegen still in ihren Gräbern. Nichts lebt, nichts stirbt.
Es fällt mir schwer, zu sagen, welches der drei Bücher mein liebstes ist, da jedes für sich Elemente zum Vorschein brachte, die mir außerordentlich gut gefallen haben. Im Kern waren das Marie-Luises aufopfernde Pflege Leos, die ihn mit Geschichten gesund pflegte; Leos Bestreben, den Siegelring zurückzuholen, um seinen Lehmjungen zum Leben zu erwecken, und die Vielfalt der Charaktere, die wir im dritten Buch kennenlernen. Doch natürlich ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen, denn Leo ist schließlich aus einem KZ geflohen, und im zweiten Buch führt uns Sjón auch diesen Teil der Geschichte vor Augen. Wir erfahren grausige Details über das „älteste und menschenfeindlichste“ Gefängnis, aus dem er floh, das alle Gefangenen früher oder später in Zebras verwandelte:
[A]lle hatten wir gemeinsam, dass wir gegen Ende unseres Aufenthalts zu Zebras geworden waren. Die Methode, die die Deutschen bei ihrer Aktion anwandten, ist ein Beispiel ihres messerscharfen Pragmatismus: Die Zellen waren bis obenhin voll; statt zwei Häftlinge in eine Zwei-Mann-Zelle zu stecken, waren wir zu fünft, und schon das allein führte dazu, dass sich unsere Körperhaltung drastisch veränderte. Diese Veränderungen konnten plötzlich auftreten oder sich über einen längeren Zeitraum hinziehen. Ich habe dort schätzungsweise sieben Monate verbracht, und das war auch in etwa die Zeit, die es dauerte, bis die Hauptmerkmale des Tieres zutage treten: gestreifter Körper, aufgeblähter Bauch, streichholzdünne Beine mit auffällig verdickten Knien, abstehende Ohren an einem knochigen Kopf und ein irrsinnniger Blick.
Aber auch die mehr als schwierige Beziehung Marie-Luises zu ihrem Freund, der sie in einem Anfall gespaltener Persönlichkeit (so kommt es mir jedenfalls vor) grausam vergewaltigt und derweile skurrile Selbstgespräche führt, geraten ins Blickfeld Sjóns und so schafft er es, dass ich als Leser die Protagonisten bis zum Schluss angefeuert habe, auf dass ihre Pläne gelingen mögen.
Fazit: Dieses Buch ist eine wahre Wundertüte an Geschichten, Märchen, Sagen und Genres und wird nicht umsonst als Islands „1001 Nacht“ bezeichnet. Sjón verwebt in „CoDex 1962“ all diese Elemente meisterhaft zu einem riesigen Wandteppich, auf dem man bei genauerem Hinschauen vermutlich noch zahlreiche weitere Geschichten entdecken könnte. Während manche Erzählstränge verwirren, tragen andere, auch wenn sie zunächst abwegig erscheinen, maßgebend zur Hauptstory bei, und der Leser muss sich in diesem Wusel wie ein Dschungelforscher mit einer Machete vorarbeiten. Für dieses Buch wird dem Leser einiges an Konzentration und Durchhaltevermögen abverlangt, aber es lohnt sich!
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom S. Fischer Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Sjón / CoDex 1962 / S. Fischer Verlage / Gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag, 640 Seiten / ISBN: 978-3-10-397341-9 / Erschienen am 29.07.20 / zur Verlagsseite