Eine wunderbare Geschichte über Zauberei, deutsche Geschichte und das Glück, seine Familie vor selbst dem größten Unglück zu bewahren.
»Allem Zauber wohnt ein Anfang inne«: So formulierte es sein Lehrmeister Schlosseck gern – und die Anfänge des Zauberers Pahroc reichen zurück in die Jahre vor dem ersten Weltkrieg. Schon bald kann Pahroc durch die Lüfte spazieren, später lernt er durch Wände zu gehen und für Sekunden aus Stahl zu sein, was ihm dabei hilft, auch den nächsten Krieg zu überleben. Als es ihm gelingt, Geld herbeizuzaubern, kann er endlich auch seine wachsende Familie ernähren. Pahroc gehört bald zu den Großen seines heimlichen Fachs, getarnt hinter Berufen wie Radiotechniker und Psychotherapeut. Im Alter von über 106 Jahren gilt seine größte Sorge der Weitergabe seiner Kunst an seine Enkelin Mathilda – und so schreibt er sein Leben für sie auf. Es ist die lebenskluge Geschichte eines Mannes und seiner sehr eigenen Art des Widerstands gegen die Entzauberung der Welt. (zur Verlagsseite)
Neugierig auf dieses Buch wurde ich bereits bei der Frankfurter Buchmesse, als ich einem Interview Nadolnys lauschte. Das Cover verzauberte und das Buch schien mir eine gute Mischung aus Magie und Realismus zu sein. Und jetzt, nach der Lektüre, würde ich Sten Nadolnys „Das Glück des Zauberers“ auch tatsächlich als magischen Realismus einstufen. Es geht um den Zauberer Pahroc, der mit seinen 106 Jahren schon einiges gesehen hat. Zu seinem Leidwesen sind alle seine Kinder nicht mit der Gabe des Zauberns ausgestattet. Als er jedoch bemerkt, wie seine Enkelin Mathilda ihm mit dem „langen Ärmchen“ die Brille von der Nase schlägt, beginnt er, seine einst begonnenen Briefe an ihren Vater auszutauschen gegen neue, an sie gerichtete, in denen er weitläufig und ausufernd von der Magie und seinem Leben erzählt. Ein so alter Mensch hat freilich viel zu erzählen, und so wurde aus seinen Briefen schließlich dieses Buch. Was es mit der Veröffentlichung auf sich hat, erfahren wir in einem grandiosen Nachwort, das ich natürlich nicht spoilern möchte.
Begleitet von seiner zärtlichen, wortgewandten Sprache tauchen wir also tief in Pahrocs Welt ein. Er erzählt von seinen Anfängen als Zauberer, von seinen Lehrstunden bei seinem Meister Schlosseck, und der Freundschaft zu Schneidebein, die jedoch später in erbitterte Feindschaft umschlägt, als Pahroc einige Jahre später die schöne Emma für sich gewinnen kann und Schneidebein als Konkurrenten aussticht. Ein Vorfall, den Schneidebein ihm noch viele Jahre später übel nehmen wird. Die Geschichte Pahrocs ist auch zugleich die des Widerstands: gegen die Nazis, gegen den Krieg und vor allem gegen die Jagd auf die Zauberergemeinschaft. Denn Zauberer müssen sich immer im Verborgenen aufhalten, niemals dürfen Menschen ohne Begabung herausfinden, welche Magie ihnen verwehrt bleibt, um Neid und Missgunst zu vermeiden.
Ich erzähle Dir immer mehr von Erlebnissen, die gar nicht direkt mit dem Zaubern zu tun haben, aber so ist das, wenn einem die Erinnerungen kommen. Eigentlich wollte ich nur etwas von meinem Wissen weitergeben, aber ich merke, dass das kaum zu schaffen ist, wenn man nicht auch sein Leben erzählt.
Wir erfahren also einiges über Pahrocs Leben und auch über die Geschichte Deutschlands. Pahroc erzählt seine Lebensgeschichte nicht nur chronologisch (was mich an „Moonglow“ zurückdenken lässt, wo alle Fragmente wild durcheinander geworfen wurden), sondern auch nach Schwierigkeit der Zauber: Er beginnt mit dem „langen Arm“, den zauberbegabte Menschen bereits in der Wiege erlernen, wie eben seine Enkelin, und arbeitet sich vor zu Zaubern wie dem Schweben und Fliegen, Gedankenlesen oder des Geldzaubers — mit dem er bereits seinen Kindern durch schwere Zeiten helfen konnte. Denn Zauberer lernen erst im Laufe ihres Lebens mehr von der Zauberei und manche Zauber, wie beispielsweise das Verändern des Aussehens oder des Durch-Wände-Gehens erlernt man stets in einem gewissen Alter.
Die Welt von Pahroc und der Zauberei ist so faszinierend, dass ich mich stets ein kleines bisschen geärgert habe, wenn wieder eine ausschweifende historische Passage kam. Allerdings sind auch diese meistens mit einer Lehre Pahrocs verknüpft, oder er überlebte nur dank seiner Zauberkräfte — beispielsweise im Krieg, wenn er an der Front Körperteile für kurze Zeit aus Stahl sein lassen kann und somit den Kugelhagel überlebt. Die Magie ist aber nicht nur Inhalt und Bereicherung seines Lebens, auch seine Frau Emma ist begabt. Da Zauberer sich untereinander nur selten zu erkennen geben, besonders, wenn man sich nicht sicher ist, ob das Gegenüber wirklich ebenfalls zaubern kann, hat Pahroc hier das große Los gezogen, da Emma nicht nur die Liebe seines Lebens ist, sondern auch eine Fee (wie Pahroc weibliche Zauberer bezeichnet).
Wir bekommen ständig gesagt, das Leben sei kurz, zu kurz für dieses und für jenes. Das stimmt fast immer. Weniger bekannt ist, dass wir doch unglaublich viel Zeit haben: Zeit, die so gut wie alles ändert, Zeit, die Wunden heilt. Dazu muss man nicht einmal 109 Jahre alt werden.
Fazit: Mit Liebe zum Detail und einer großen Portion Humor erzählt Sten Nadolny in „Das Glück des Zauberers“ das Leben Pahrocs, der durch seine Magiebegabung sehr viel Leiden und Unglück von seiner wachsenden Familie ablenken kann. Historisches vermischt sich mit Philosophie und Gesellschaftskritik, und es wird an keiner Stelle langweilig, Pahrocs Briefe an seine Enkelin zu verfolgen. Besonders der Erzählstil, der eines liebenden Großvaters, der voller Zärtlichkeit das Wort an seine vier Monate alte Enkelin richtet, hat mir äußerst gut gefallen. Die Leichtigkeit der Sprache, die auch unangenehme Themen wie die Nazi-Verfolgungen (unterstützt durch – na, wer errät’s? Schneidebein!) werden so gut lesbar und der Aspekt der Magie, die über allem schwebt, haucht ein wenig Optimismus in selbst die düstersten Kapitel von Pahrocs Leben. Das ganz besondere Nachwort, das ich zu Beginn bereits erwähnt habe, haucht noch einmal eine Portion „wow“ extra in dieses Werk. Obwohl ich nicht ganz hinter die Logik komme, finde ich diese Ergänzung zu Pahrocs Geschichte ergreifend und auch ein wenig traurig. Verraten werde ich natürlich nichts, aber wer es gelesen hat, darf sich gern bei mir melden und mir die Logik erklären! 🙂 Trotz allem waren mir die historischen Passagen trotz des wunderbaren Schreibstils teilweise etwas langatmig, weshalb „Das Glück des Zauberers“ trotz allem nur 4 Sterne erhält. Dennoch kann ich dieses Buch uneingeschränkt weiterempfehlen, lest es alle!
Dieses Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Piper Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Sten Nadolny, Das Glück des Zauberers. Piper Verlag Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 320 Seiten ISBN: 9783492058353 Erschienen: 01.09.17