Kurzweiliger Thriller, der Kindheitstraumata und das Leben mit diesen thematisiert. Gut konzipiert, jedoch mit einigen Schwachpunkten.
Seoul, Gegenwart: Ein perfider Serienmörder hat die Stadt in Atem gehalten. Jetzt ist Lee Byongdo, der Killer mit dem zarten Gesicht, gefasst worden und wird in einer Psychiatrie verwahrt. Doch Lee schweigt. Es gibt nur einen Menschen, mit dem er bereit ist zu reden: mit der jungen Psychologin Sonkyong. Allerdings nur unter der Bedingung, dass sie ihm bei jedem Besuch einen saftigen roten Apfel mitbringt. Niemand weiß, warum er Sonkyong gewählt hat, denn beide sind sich nie begegnet. Die junge Frau willigt in das Treffen ein – ohne zu ahnen, dass sie damit einen Weg beschreitet, der sie in die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele führt …
Dieses Buch hat mich schon eine Weile aus den Vorschauen heraus angelacht. Koreanische Literatur? Ja, bitte! Und als ich dann am Wochenende mal wieder Lust auf ein spannendes Buch hatte, wusste ich sofort, zu was ich greife. Mi-Ae Seos „Der rote Apfel“ erzählt die Geschichte einer furchtbaren Kindheit, einer Mordserie und einer Kriminalpsychologin, die sich von einem Kind aus schlimmen familiären Verhältnissen hinters Licht führen lässt. Nachdem das Wohnhaus abgrebrannt ist, in dem die kleine Hayong mit ihren Großeltern gelebt hat, nachdem ihre Mutter sich das Leben genommen hat und die Großeltern jetzt auch tot sind, nimmt ihr Vater sie bei sich auf. Ihr Vater, der sich vor langer Zeit bereits von seiner besitzergreifenden Frau getrennt hat, hat mittlerweile neu geheiratet – und Sonkyong, eine Psychologin, freut sich, Hayong von nun an ein besseres Leben bieten zu können, in dem die Kleine alle ihre Traumata endlich hinter sich lassen kann. Zu Beginn wirkt es so, als würde Hayong die beiden gegeneinander aufwiegeln, um ihren Vater für sich allein zu haben, doch Sonkyong erfährt Vorkommnisse aus Hayongs Kindheit, die alles in ein anderes Licht rücken. Parallel dazu wird sie vom Serienmörder Byongdo zu einem Treffen ins Gefängnis beordert, bei denen sie für die Polizei mehr über etwaige verschwiegene Morde des Frauenkillers herausfinden soll. Während sich bei ihr zuhause einige stressige Vorfälle mit Hayong ereignen, erfährt Sonkyong immer mehr über die Kindheit des Mörders, und sie droht daran zu zerbrechen, dass sie von beiden Seiten – Privatleben und Beruf – so in die Mangel genommen wird.
Mit dem Gedächtnis ist es irgendwie eigenartig. Es gibt Dinge, die man nie vergessen kann, die aber dennoch aus der Erinnerung verschwinden. Es heißt, das sei ein Mechanismus, der dem Selbstschutz dient. Wer sich dauerhaft an schockierende Erlebnisse erinnert, geht daran zugrunde, weshalb das Gedächtnis sie automatisch streicht. Schließlich erinnert sich unser Gehirn nur noch an die Dinge. Es behält nur das, was wir ertragen können.
Mi-Ae Seo verknüpft in diesem Thriller mehrere Handlungsstränge, die nach und nach zueinander führen. Dabei „zuzusehen“, wie nacheinander alles ein großes Ganzes ergibt, war wirklich unglaublich spannend. Die Erzählsprache hat einen unheimlich guten Fluss, sodass ich das Buch abends begonnen und am nächsten Abend beendet habe – also für meine Verhältnisse relativ flott! Da aus mehreren Perspektiven erzählt wird, unterscheiden sich natürlich auch die entsprechenden Kapitel voneinander, wobei ich besonders die aus der Sicht von Byongdo, dem Mörder, gelungen fand. Seine Sprache variiert am stärksten von den anderen und er spricht den Leser quasi direkt an, als würde er sich mit dir unterhalten. Wir erfahren „aus erster Hand“ Spannendes (bzw. wohl eher Grausames) über seine Kindheit, in der seine Mutter ihn aufs Schlimmste misshandelt und mehrmals versucht umzubringen hat. Er erzählt, dass seine früheste Erinnerung die ist, wie er strampelnd nach Luft ringt, weil seine Mutter ihm ein Kissen aufs Gesicht gedrückt hat. Das tut beim Lesen unglaublich weh und man spürt schon etwas wie Empathie für den Mörder.
Leider habe ich auch einige Kritikpunkte an „Der rote Apfel“. Denn so sehr ich die Handlung und besonders den Erzählstil mochte, umso verwirrter war ich, was die Charaktere betrifft. Sonkyong ist als Kriminalpsychologin wirklich einfältig bzw. merkt nicht, wie das kleine Kind von zehn Jahren sie krass manipuliert. Sonkyong berät sich des öfteren telefonisch mit einer Freundin, die ebenfalls Psychologin, die ihr quasi stückchenweise erklären muss, was das Kind da treibt. Das fand ich sehr störend und hat mir auch einen großen Teil der Lesefreude versemmelt. Dazu gab es (so kam es mir zumindest vor) Probleme mit dem Timing: Sonkyong hat Treffen mit Byongdo im Abstand von zwei Tagen. Dazwischen passiert aber dermaßen viel und es wird meiner Erinnerung nach öfter von Frühstück gesprochen, als es in diese Zeitspanne zwischen den Treffen gepasst hätte.
Jedoch hat mir die Thematisierung der Erinnerungen, die ins hinterste Eckchen des Gedächtnisses gesteckt werden, damit man trotz schlimmer Traumata irgendwie weiterleben kann, sehr gut gefallen. Das Thema „Erinnerungen“ wird im Laufe des Buchs mehrmals aufgegriffen und ein Lied (das ich vorher zu meiner Schande nicht kannte) spielt dabei eine große Rolle. Verdrängen und Vergessen gut und schön, aber sobald dann der Trigger kommt, öffnen sich die Höllenpforten in Byongdos Gedächtnis:
Aus dem Radio in einer Ecke kam Musik. Unvermittelt hielt ich mitten in der Bewegung inne, mit hocherhobenem Hammer. Die Musik rauschte in meinen Ohren. Mein Herz begans wie wild zu klopfen, ich bekam keine Luft mehr, und mir wurde es eng um die Brust. Zunächst begriff ich nicht, warum. Ich wischte mir den Angstschweiß ab und atmete bewusst langsam aus. Doch die Unruhe und Furcht, die an meines Nerven zerren, ließen nicht nach. Die Hand mit dem Hammer zitterte wie Espenlaub. Mir verschwamm alles vor den Augen. Hastig schaltete ich das Radio ab, denn mir war klar, dass etwas nicht stimmte. Irgendetwas war schrecklich verkehrt.
Fazit: Ein sehr spannendes Buch, das seine Einordnung ins Genre „Thriller“ redlich verdient. Da hier jedoch von grausamen Kindheiten erzählt wird, ist dieses Buch vielleicht nicht für jeden. Wer aber eine gute Geschichte mit Spannung sucht und vielleicht mal in koreanische Literatur reinschnuppern will, ist hier goldrichtig. Mit „Der rote Apfel“ können Fans des gepflegten Nervenkitzels absolut nichts falsch machen.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Heyne Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Mi-Ae Seo / Der rote Apfel / Heyne Verlag / Taschenbuch, 352 Seiten / ISBN: 978-3-453-42335-0 / Erschienen am 10.08.20 / zur Verlagsseite