Bedrückend, unangenehm, dystopisch — „Vox“ ist zugespitzt, aber dennoch realistisch!
Als die neue Regierung anordnet, dass Frauen ab sofort nicht mehr als hundert Wörter am Tag sprechen dürfen, will Jean diese wahnwitzige Nachricht nicht wahrhaben – das kann nicht passieren. Nicht im 21. Jahrhundert. Nicht in Amerika. Nicht ihr. Schon bald kann sie ihren Beruf als Wissenschaftlerin nicht länger ausüben, schon bald wird ihrer Tochter Sonia in der Schule nicht länger Lesen und Schreiben beigebracht. Sie und alle Mädchen und Frauen werden ihres Stimmrechts, ihres Lebensmuts, ihrer Träume beraubt. (zur Verlagsseite)
Vermutlich begegnet euch Christina Dalchers „Vox“ aktuell auf vielen Blogs und überall in den sozialen Medien. Dieses Buch wird mit der Message „Der Roman, den jede Frau lesen muss“ geliefert und hat auch mich neugierig gemacht. Das Setting ist ein Amerika in nicht allzu ferner Zeit, in der Frauen Wortzähler um die Handgelenke haben, die exakt 100 Wörter pro Tag erlauben. Alles, was über diese 100 Wörter hinaus gesprochen wird, wird mit Stromschlägen bestraft. Die Frauen sollen dadurch gefügig gemacht werden und durch diese Art der Züchtigung auch lernen, keine Kritik am System zu üben. In Dalchers Zukunftsvision haben Frauen zudem ihren festen Platz im Haushalt, bevorzugt in der Küche, wo sie sich um das leibliche Wohl ihrer Familie kümmern. Kindern wird bereits in der Schule ein verzerrtes Bild indoktriniert, in dem die Frau nichts zu sagen hat. Und warum sollte sie auch sprechen? Es stehen sowieso nur 100 Wörter zur Verfügung. In diese Welt wird Jean katapultiert, nachdem sie ungläubig das politische Geschehen im Fernsehen verfolgt. Nach und nach verschwinden die Frauen aus den Reihen der Regierenden und Meinungsgeber, nach und nach etabliert sich ein System, bei dem niemand damit gerechnet hätte, dass „die“ damit durchkommen. Die, das sind all die bösen männlichen Politiker, die Frauen wieder an den Herd verbannen möchten. Die einzige Frau, die sich gegen diese Veränderungen aufzulehnen scheint, ist Jeans Uni-Freundin Jackie, die in Talkshows auftritt, in Debatten für das Recht der Frauen protestiert, mit aller Macht dagegen ankämpft. Doch eine Frau reicht leider nicht aus, um diesen Irrsinn zu stoppen, und so geschieht, was viele nicht sehen wollten: Ein totalitärer Staat entsteht.
Ich habe wohl nicht geglaubt, dass es passieren würde. Keine von uns.
Christina Dalcher legt mit „Vox“ einen erschütternden Roman vor, der stellenweise mehr Thriller als Gesellschaftskritik ist. Und das Buch ist tatsächlich so wichtig, wie seine Marketingkampagne uns mitteilt: Durch Trumps Position in den USA werden die Stimmen aus dem Bible Belt, die früher vielleicht als hinterwäldlerisch verschrien worden wären, immer lauter. Frauen gehören an den Herd und sollen am besten schon früh verheiratet werden, so tönt es aus dem Süden, und mir rollen sich da wie vermutlich jedem von uns die Zehennägel hoch. Dalcher hat diese Vision überspitzt wahr werden lassen und unsere Protagonistin Jean zusammen mit ihrer Familie mitten in den Wahnsinn geschmissen. Während ihr Mann seinen alten Job ausführen darf, darf Wissenschaftlerin Jean brav das Haus schrubben. Ihr Sohn Steven blüht unter der grenzwertigen Schulbildung nahezu auf und bringt spannende Weisheiten mit nach Hause, wie beispielsweise die „Tatsache“, dass Männer und Frauen bereits rein biologisch dazu ausgelegt sind, für bestimmte Dinge geeignet zu sein. Steven entwickelt sich unter der „kulturellen“ Erziehung innerhalb der Schule mehr und mehr zu einem Monster, dem nicht nur Jean eine zimmern möchte. Jeans Tochter Sonia hingegen verkümmert. Sie spricht freiwillig kaum bis gar nicht und nachdem sie gesehen hat, wozu die Armbänder fähig sind, ist ihr junges Leben stets von Angst diktiert. Während die Autorin sich also reichlich Zeit für die Kinder Jeans nimmt, wirken sie und ihr Mann fast schon leblos, wie Marionetten. Auch Jeans Affäre scheint irgendwie nur den Sinn zu erfüllen, dass in Jean der Wunsch auszubrechen erweckt wird. Das finde ich richtig schade! Gerade Jean, die in die Fußstapfen von Winston Smith (1984) und Bernard Marx (Brave New World) tritt, sollte etwas runder dargestellt werden. Dennoch ist „Vox“ sehr spannend zu lesen, man fliegt förmlich durch die Seiten. Besonders, als Jean aufgrund eines Schlaganfalls des Präsidenten (oder war es jemand anders?) nämlich ihren Job unter verschärften Bedingungen wieder ausüben darf, um ein Heilmittel für die beschädigten Hirnzellen, die das Sprachzentrum angreifen, zu entwickeln…
Der Bibelgürtel hatte sich ausgedehnt und erweitert, bis er zur Eisernen Jungfrau geworden war.
Fazit: „Vox“ ist ein äußerst spannender Roman, den ich way past my bedtime noch „schnell“ beenden musste. Der Aufbau ist einfach klasse, innerhalb von 20 Seiten habe ich mich schon sehr beklemmt gefühlt und die Wörter Jeans sowie meine eigenen gezählt und war schockiert, wie wenig doch 100 Wörter sind. Weniger als diese 100 Wörter am Tag zu sprechen und gar nicht mehr zu lesen (für Frauen auch verboten in Dalchers Welt) wäre für mich der absolute Horror. Für wen auch nicht? Einziger Downer sind die letzten 50-100 Seiten, in denen die Handlung einfach viel zu schnell abgehakt wurde, um blitzschnell das Ende herbeizuführen. Es kam mir fast vor, als hätte Christina Dalcher sich fest vorgenommen, die 400-Seiten-Grenze nicht zu überschreiten, um dann kurz vor Ende zu merken, dass die letzten Akte noch komplett fehlen. Schade!
Dieses Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom S. Fischer Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Christina Dalcher, Vox. S. Fischer Verlage Gebunden mit Schutzumschlag, 399 Seiten ISBN: 9783103974072 Erschienen: 15.08.18
Weitere Meinungen findet ihr bei:
Wie finde ich das Gewinnspielzu Christina Dalcher, „Vox“?
Hallo Barbara, welches Gewinnspiel meinst du? 🙂
Vielen Dank, Barbara, für die tolle Rezension!
Hey Tina,
ich habe jetzt mal nur das Fazit gelesen, aber das mit dem abgehackten Ende habe ich nun schon oft gehört. In jedem Fall bin ich suuuper neugierig auf das Buch, die Thematik klingt spannend, aber auch unangenehm, wie du schon irgendwo geschrieben hast. 100 Wörter sind echt nichts, wahrscheinlich hat mein Kommentar nun schon viel mehr.
Liebe Grüße,
Nicci
Hallo Tina,
schöne Rezension, ich habe fast exakt die gleiche Meinung zu dem Buch wie du. Auch ich habe wollte es unbedingt noch fertig lesen, weil es mich so gepackt hatte. Das Ende ist leider enttäuschend schnell und nicht sehr liebevoll abgehandelt, aber auch ich finde die Botschaft des Buches sehr wichtig.
Liebe Grüße
Vera