Das grausame Portrait eines Mörders, der in seiner Kindheit durch die Hölle gehen musste.
Der Fall von Fritz Mertens ist einer der ungeheuerlichsten Straffälle der jüngsten Vergangenheit. Weniger wegen des Delikts an sich, sondern wegen des menschlichen und sozialen Versagens, das der Tat vorausging. Das Delikt war Mord, zweifacher Mord. Fritz Mertens wird als 20-Jähriger mit seiner Geliebten im Bett erwischt, von deren Freund. In der sich anschließenden Auseinandersetzung zieht Mertens ein Messer und ersticht den Mann, als die Frau zu schreien beginnt, sticht er ebenfalls auf sie ein. Danach übergießt er beide mit Alkohol und zündet sie an. Wenige Wochen nach der Tat wird Mertens vom Gerichtspsychiater Reinhart Lempp aufgefordert, seine Lebensgeschichte niederzuschreiben; Mertens wusste, um was es ging: zehn Jahre Haft nach Jugendstrafrecht oder lebenslänglich. Der daraus entstandene Bericht ist ein einmaliges Dokument: Der nicht ans Schreiben oder überhaupt ans Erzählen gewöhnte Mertens – der sich zur Niederschrift dieses Pseudonym wählte – schildert ein grausames Elternhaus, in dem Missbrauch an der Tagesordnung war, einen Alltag voller Zurückweisung und menschlicher Enttäuschung, eine Suche nach Liebe und Zuneigung, die meist erfolglos bleibt. Der Bericht endet ein Jahr vor der Tat. (zur Verlagsseite)
Bei diesem Buch habe ich mich dazu entschieden, euch den langen Klappentext voranzuschicken, damit ihr direkt alle Hintergrund-Informationen zur Verfügung habt. Dieses Buch, zuerst 1984 erschienen, kurz nachdem die Tat verübt wurde, hat mich mit diesem Klappentext direkt gefesselt. Ich wollte unbedingt lesen, wie es zu einer solch ungeheuerlichen Tat kommen kann, welche Motive dahinterstecken und wie das oben erwähnte „grausame Elternhaus“ wohl ausgesehen haben mochte. Makaber, aber irgendwie war ich fasziniert. Fritz Mertens‘ „Ich wollte Liebe und lernte hassen!“ beginnt bei seinen jüngsten Erinnerungen und erzählt, wie er aufwuchs, wie sein Verhältnis zu seinen Eltern war — kurz, dieses Buch ist eine Autobiographie. Da das Lektorat möglichst wenig an diesem Rohtext verändern wollte, wurde tatsächlich nichts bis auf die Orthographie geändert, Fehler ausgebessert — das gesamte, grausame Material ist also fast komplett so geblieben, wie Fritz Mertens es damals verfasst hat. Es verschlägt einem oft die Sprache, man will gar nicht glauben, dass Dinge wie dort beschrieben überhaupt irgendwo geschehen können, wie Kinder dermaßen misshandelt werden können, doch die Neugier, ob Fritz oder seine Geschwister sich jemals zu Wehr setzen würden, trieb mich an, weiterzulesen.
Ich glaube, ich habe nie etwas richtig gemacht in meinem Leben, immer war etwas dabei, was falsch war.
„Ich wollte Liebe und lernte hassen!“ ist definitiv kein Buch für zarte Gemüter. Nüchtern und gerade heraus erzählt Fritz Mertens über seine Kindheit und Jugend, über seinen Alkoholiker-Vater und seine allem Anschein nach sehr überforderte Mutter. Und das ist wirklich noch vorsichtig ausgedrückt. Seine Geschwister erfahren leider dieselben „Erziehungsmaßnahmen“ wie er und mehr als einmal spielt er sogar in Kindheitstagen(!) mit dem Gedanken, sich umzubringen. Während die Mutter ihn also wegen unfassbaren Kleinigkeiten blau und grün prügelt, schwärzt sie ihn auch bei seinem Vater an, der mal bei der Familie, mal getrennt wohnt. Hinterrücks arbeitet Fritz Mutter also gegen ihn, den „Liebling“ seines Vaters, der nichtsdestotrotz auch von ihm verprügelt wird. Fritz‘ Kindheit ist geprägt von Krankheit und Krankenhausaufenthalten, denn als er in jungen Jahren über Hüftschmerzen klagt und nicht mal mehr richtig gehen kann, wird er von seinen Eltern nur verlacht, er solle nicht so „gehen wie eine Schwuchtel“ und sich „nicht so anstellen“. Doch die Schmerzen werden schlimmer und als Fritz endlich zu einem Arzt kommt, stellt man einen schweren Bruch der Hüfte fest und er verbringt das nächste Jahr fast komplett abwechselnd in Gips, im Rollstuhl, mit Krücken oder im Krankenhaus — wo er am Ende seines Aufenthalts auch gar nicht mehr weg will, da sich dort alle so liebevoll um ihn kümmern. Kaum ist Fritz genesen, ist die „Schonzeit“ der elterlichen Gewalt vorbei und teilweise schwärzen ihn sogar seine Geschwister bei der Mutter an, wobei die geschwisterlichen Bande auch ins Wanken geraten. Fritz muss sich seit seinen jungen Jahren auch um den Haushalt kümmern, hat keine Zeit mehr für seine Hausaufgaben, zur Schule zu gehen fällt ihm nach und nach schwerer, da er nie vorbereitet ist. Zum Geburtstag bekommen die Kinder keine wirklichen Geschenke; Fritz erzählt in seinem Bericht vom Geburtstag seines Bruders, der ein Papier geschenkt bekommt, auf dem in der Mitte ein Pfennig aufgeklebt war, mit den Worten: »Für mehr hat es nicht gelangt, du warst ja auch dieses Jahr nicht brav.«
Fritz Mertens erzählt schonungslos von allen Grausamkeiten, die ihm und seinen Geschwistern in Kindheit und Jugend bis hin ins junge Erwachsenenalter widerfahren sind, und ich habe mir stellenweise wirklich an den Kopf gefasst, wieso denn niemand das Jugendamt verständigt hat, der diese Zustände mitbekommen hat. So führt Fritz‘ Mutter später eine Gaststätte, und als es zu einem Missverständnis kommt, prügelt sein Vater ihm im Hinterzimmer die Seele aus dem Leib, sodass seine Augen geschwollen sind und seine Lippe bluten. In diesem Zustand soll er sich dann bei einem Gast entschuldigen. Spätestens da hätte ich mir für die Kinder gewünscht, dass irgendjemand endlich zur Polizei geht und die Kinder den Eltern weggenommen werden. Oder dass die Geschwister sich verbünden und gemeinsam weglaufen oder selbst zur Polizei gehen. Selbst Fritz‘ kleine Schwester wird, als sie noch keine zwei Jahre alt ist, von der Mutter halbtot geschlagen. Was die Kinder von einer Flucht aus dem Elternhaus abgehalten hat, weiß ich beim besten Willen nicht.
[…] Nun wusste ich, dass ich praktisch nur existierte, weil ich zufällig auf die Welt gekommen bin, und Mutti hatte mich, Uwe, Ralf und Daniela niemals richtig geliebt, wenn überhaupt, so wie eine Mutter ihre Kinder normalerweise liebt. Wir waren nur für die Arbeit da. Man hat uns beklaut, geschlagen und gegeneinander ausgespielt und zuletzt weggeworfen wie ein Stück Dreck, das man nicht gebrauchen kann.
Die Lektüre dieses Buches hat mich ehrlich gesagt ziemlich fertig gemacht. Ich hatte ja schon das sich ebenfalls mit Kindesvernachlässigung befassende „Marie“ von Steven Uhly gelesen, aber das war nur ein Roman, kein auf Tatsachen beruhender Lebensbericht, insofern sind die beiden Titel eher schlecht miteinander zu vergleichen. Dass ein Mensch jedoch solche Misshandlungen erleben muss und weiterhin das Schicksal der Geschwister miterlebt, ist einfach nur deprimierend.
Bleibt natürlich die Frage, wie sich ein solches Leben auf Dauer auswirkt auf ein Kind. In Fritz‘ Fall können wir sagen: Nicht gut. Was seinen Geschwistern noch im Laufe ihres Lebens widerfahren ist, wissen wir als Leser nicht, der Kontakt zu seinen Brüdern bricht ab, seine kleine Schwester wohnt am Ende des Romans noch bei der Mutter. Zu seinen Geschwistern findet man auch keine Informationen online, aber ich kann mir gut vorstellen, dass ihr Leben nicht gut weiter verlaufen ist. Fritz Mertens hat vermutlich aufgrund seines Lebensberichtes lediglich acht Jahre Gefängnisstrafe für seinen Doppelmord absitzen müssen.
Fazit: Keine Leseempfehlung für zarte Gemüter. Da ich selbst nicht so recht sagen kann, wieso ich mich von diesem furchtbar grausamen Lebensbericht angesprochen gefühlt habe, fällt es mir schwer, eine Empfehlung für gewisse Personengruppen auszusprechen. Wenn euch die Lebensgeschichte eines Mörders interessiert und ihr nicht zimperlich seid, wenn es um explizite Beschreibungen von Gewaltausübungen geht, dann lest es. Fritz Mertens hat noch ein zweites Buch geschrieben, „Auch du stirbst, einsamer Wolf“, in dem er seine Tat beschreibt. Zuerst war ich interessiert, weil mich sein Schicksal bereits in diesem Buch gefesselt hat, aber mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich den Roman lesen könnte. Es geht immerhin um eine real verübte Tat und nicht um den nächsten Gemetzel-Roman vom Horror-Autor eurer Wahl. Da dieser Lebensbericht mich zugleich gefesselt und abgestoßen hat, weiß ich wirklich nicht, wie ich ihn bewerten soll. Am besten lest ihr selbst mal rein, um euch ein Bild zu machen.
Dieses Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Diogenes Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Fritz Mertens, Ich wollte Liebe und lernte hassen! Diogenes Verlag Taschenbuch, 330 Seiten ISBN: 9783257300536 Erschienen: 25.04.18
Liebe Tina,
ich fürchte ich falle in die Kategorie „zartes Gemüt“, denn schon der Klappentext hat mich zurückschrecken lassen 😉
Deine Rezension darüber gefällt mir sehr gut! Die Hintergründe und die sozialen Aspekte sind total interessant. Auch von dem Fall habe ich bisher noch nichts gehört…
Auf jeden Fall bestätigt es sich wieder, dass der Diogenes Verlag immer sehr eigene und besondere Bücher auf den Markt bringt. Das ist echt klasse! (Und ich sollte mehr aus dem Verlag lesen.. 😉 )
Liebe Grüße
Juliane