Ein großer Roman zu einem wichtigen, viel zu wenig besprochenem Thema, bildgewaltig und emotionsgeladen erzählt.
Ein Wunsch, den Martin seinem Großvater Franz nicht abschlagen kann: eine letzte große Reise unternehmen, nach Amerika, an die Orte, die Franz seit seiner Gefangenschaft 1944 nicht mehr gesehen hat. Unter der sengenden texanischen Sonne, zwischen den Ruinen der Barackenlager, durch die Begegnung mit den Zeugen der Vergangenheit, werden in dem alten Mann die Kriegsjahre und die Zeit danach wieder lebendig. Und endlich findet er Worte für das, was sein Leben damals für immer verändert hatte. Ein vielschichtiger Roman über die tiefen Spuren, die der Krieg bis heute in vielen Familien hinterlassen hat. (zur Verlagsseite)
Hannes Köhlers „Ein mögliches Leben“ hat mich aus der Frühjahrsvorschau des Ullstein Verlags heraus direkt angelacht. Die unverbrauchte Thematik, über die bisher kaum geschrieben wurde, und ein Schritt aus meiner Komfortzone heraus waren die Punkte, die mich zu dem Entschluss brachten: Muss ich lesen! Denn Bücher über den Krieg, speziell den zweiten Weltkrieg, sind in meinem Lese-Repertoire noch Mangelware. Und nun habe ich es beendet und kann das Gelesene kaum in Worte fassen. So vielschichtig, so emotional: Martin kennt seinen Großvater eigentlich nur aus von Bitterkeit geprägten Geschichten seiner Mutter, denn für sie war er zwar physisch vorhanden als Vater, mehr aber auch nicht. Und trotzdem willigt Martin ein, mit Franz die Stationen seiner Kriegsgefangenschaft in Amerika zu besuchen. Für Martin beginnt eine Reise, die er nie wieder vergessen wird, denn unter der sengenden Sonne beginnt sein Großvater endlich, sich zu öffnen.
„Ein mögliches Leben“ wird in mehreren ineinander verflochtenen Handlungssträngen erzählt. Zum einen ist da die Reise in die Vereinigten Staaten, Martin, der seinem Großvater beim Erinnern zusieht und im Endeffekt sein eigenes Leben mit seinem Kind von einer Frau, mit dem ihm nicht so wirklich etwas verbindet, klarer sieht. Ein weiterer Erzählstrang wird von Sicht Barbaras erzählt, Franz‘ Tochter und Martins Mutter, Monate nach der Reise. Den größten Platz in „Ein mögliches Leben“ nimmt aber die Rückschau auf Franz‘ Leben in Kriegsgefangenschaft ein, wie er von einem Lager zum nächsten kommt und Arbeiten in der Hitze verrichten muss, wie er Kameradschaftlichkeit in seinen Mitgefangenen entdeckt, einen Freund findet und sich schließlich als Dolmetscher und Übersetzer nützlich macht. Das Leben im Lager ist nie leicht für Franz, obwohl er einigen Komfort erlebt, den es nicht überall gibt in den Lagern: fließendes Wasser, geregelte Mahlzeiten, ein eigenes Bett und den Luxus, Sprachkurse zu besuchen. In Nachbarlager gibt es Radios, und Franz und seine Kameraden, wenn man das so sagen kann, versuchen alles, um einen Fetzen aufzuschnappen, welche Stadt gefallen ist und ob der Krieg ein Ende erreicht. Tägliches Bangen um die Familie in Deutschland ist an der Tagesordnung. Als Paul, Franz‘ bester Freund in der Gefangenschaft, stirbt, wendet er sich an dessen Schwester, und die beiden schreiben sich Briefe voller Trauer und Einsamkeit. Franz spürt, dass sich ihm eine Möglichkeit eröffnet; eine Möglichkeit, nach der Gefangenschaft in dem Land zu bleiben, in das er sich trotz aller Widrigkeiten verliebt hat. Doch wie der Leser schon an der Tatsache erkennen kann, dass Franz Jahrzehnte später mit seinem Enkel nach Amerika reist, ist klar, dass Franz sich gegen das mögliche Leben entschieden hat und nach seiner Gefangenschaft zurück nach Deutschland gereist ist, wo nichts mehr ist, wie es einmal war.
Sein ganzer Mund ist bitter, er spürt, wie sich ihm der Magen umdreht. […] Auf dem Boden kleine Kiesel und Sand, plopp, plopp, fällt der Schweiß von seiner Stirn, das gehört zu dir, zu uns allen, das gehört dazu, für immer, das werden sie nie verzeihen, unmöglich, absolut unmöglich, dass es so ein Land noch geben wird, sie werden euch auslöschen; der Schweiß tropft, er zittert, er starrt durch die Lücken zwischen den Bodenbrettern, starrt in die Schwärze.
Hannes Köhler berichtet hier bildgewaltig von den Schicksalen von Franz, Martin und Barbara. Barbara, die mit frühen Jahren mit einem von ihrem Vater nicht akzeptierten Mann durchgebrannt ist und kurzerhand aus dem elterlichen Heim rausgeworfen wurde, blickt zurück, erinnert sich an ihren Vater, der nie ein richtiger Vater für sie gewesen ist, sie nie unterstützt hat, und ihr nach der Amerika-Reise einen großen Karton mit Briefen an eine gewisse Wilma schickt. Diese Briefe geben ihr ein Rätsel auf, sollen ihr aber zeigen, dass Franz sich auch Jahre, nachdem er nach Deutschland zurückgekehrt war und ihre Mutter Johanna kennengelernt hatte, sich stets für sie beide entschieden hat, obwohl er nach Amerika zu Wilma hätte gehen können. Franz, der im Lager mitnichten ein gemütliches Leben hatte, sondern stets um sein eigenes und das Leben seiner Familie gefürchtet hat; Franz, der als Gefangener Dinge sehen und miterleben musste, die ihn sein Leben lang verfolgten. Und dann ist da stets die Frage Martins: „Wie hast du deinen Finger verloren?“, die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht und in einer grässlichen Szene ihre Antwort findet.
Fazit: Ein großer und wichtiger Roman, der uns ein wichtiges Thema näher bringt, das in der Literatur immer noch viel zu wenig vertreten ist: Das der Prisoners of War (POW). Auch wenn dieses Buch ein fiktives Werk ist, recherchierte der Autor ausgiebig in allem ihm zur Verfügung stehenden Materialien und sprach persönlich mit ehemaligen Kriegsgefangenen, um sich an das Thema Prisoners of War detailgetreu anzunähern. Was dabei herauskam, ist ein Roman, der meiner Meinung nach von jedem gelesen werden sollte. Wer sich jedoch lieber mit den harten Fakten befasst, dem nennt Köhler im Anhang einige Werke über das Thema.
Dieses Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Ullstein Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Hannes Köhler, Ein mögliches Leben. Ullstein Verlag Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 351 Seiten ISBN: 9783550081859 Erschienen: 23.02.18