Krieg, Schrecken, die Atombombe, Identitätsfindung — Marina Perezagua packt all dies zwischen zwei Buchdeckel und mausert sich zum End-of-Summer Highlight.
Wir sind die mit der Bombe in uns. »Hiroshima« ist das Zeugnis einer Frau, die von der Atombombe körperlich wie seelisch gebrandmarkt wurde. Als H. in New York auf den Kriegsveteran Jim trifft, haben beide die Hölle auf Erden bereits durchschritten. Während H. von der Atombombe in Hiroshima entstellt wurde, ist Jim gezeichnet von den Traumata, die ihm in der japanischen Kriegsgefangenschaft zugefügt wurden. Zwei versehrte Liebende, die sich am anderen Ende der Welt zu einer Einheit verbinden. Doch trotz ihrer Erfahrungen kann sie nichts auf das vorbereiten, was ihnen noch bevorsteht. (zur Verlagsseite)
Wow, was für ein Cover, was für ein Buch! Marina Perezagua ist mit „Hiroshima“ ein wahnsinnig aufwühlendes Buch gelungen, das nicht nur über Kriegstraumata, die „Schande des Überlebens“ und den Wahnsinn der Menschheit spricht, sondern auch, und das ganz überraschend, über Gender. (Ich verwende hier den englischen Begriff, da mir das deutsche „Geschlecht“ viel zu sehr an das Körperliche gebunden zu sein scheint und das Englische hier wunderbar differenziert.) Es geht um H., unsere namenlose Protagonistin, und ihren Kampf mit ihrem Körper. Denn H. wurde mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren, und da die Eltern schlicht überfordert waren, entschlossen sie sich, ihr Kind als Jungen großzuziehen. Doch wie ihr bereits an meinen Pronomen erkennen könnt, fühlt H. sich mehr als Frau und möchte auch ihren Körper später , wenn sie alt genug ist, anpassen. Doch als ihr die Atombombe nimmt, was sie immer als lästig empfunden hat, fühlt sie sich beraubt. Eine lebenslange Trauer beginnt. Sie lernt Kriegsveteran Jim kennen, der während des Krieges ein Baby. ein Mädchen, versorgt hat und dieses nun wiederfinden will, da er sich als Vater sieht. H., die nicht nur mit einem Penis, sondern auch mit einer dysfunktionalen Gebärmutter geboren wurde, spürt ihr Sehnen. Denn vor der Bombe hätte sie wenn nicht Mutter, dann Vater werden können, jetzt bleibt ihr nichts. Der Wunsch nach einem Kind gewinnt Überhand und so hilft sie Jim, seine Tochter zu finden. Eine lange Reise beginnt, die H. und Jim die Schrecken des Krieges immer wieder vor Augen führt.
Ich habe Hiroshima überlebt, weil es meine Pflicht war, zu überleben und Zeuge meiner eigenen Existenz zu sein, denn dafür hat meine Mutter mich auf die Welt gebracht: damit ich sehe, was vor mir liegt, eine Bombe oder eine Herde friedlich grasender Schafe.
Als ich den Klappentext und die Leseprobe las, wusste ich ehrlich gesagt nicht, was mich erwartet. Ich rechnete mit einem Buch über den Krieg, über die Gräuel der Atombombe und wie sie Land und Menschen Japans veränderte. Doch was Marina Perezagua hier zwischen zwei Buchdeckel packt, ist so viel mehr. Es geht um Identitätsfindung, wenn einem das geraubt wird, dessen man sich eigentlich bewusst entledigen wollte, es geht um Akzeptanz, es geht um Sinnkrisen. Eigentlich hätte die Lektüre wahnsinnig bedrückend und deprimierend sein müssen — und das war sie auch, versteht mich nicht falsch —, doch gab es immer wieder Szenen der Hoffnung, der Freude, wenn ein neues Lebenszeichen von Jims Tochter auftaucht, wenn die beiden ihrem Ziel einen Schritt näher kommen. Aber auch die Tatsache, dass H. langsam und schmerzvoll ihren Verlust aufarbeitet, sich mit anderen Intersexuellen austauscht und sogar sexuelle Ausrichtung kennenlernt, von denen sie nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Ich muss sagen, durch H. habe ich sehr viel gelernt, was mir das Gender Studies Seminar in der Uni nicht einmal ansatzweise mitgeben konnte. H. stellt wichtige Fragen, wie etwa die Frage danach, warum man ein Baby mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen in eine Form zwingt, damit es in Schema X oder Y passt, „warum nicht diesen Status aufrechterhalten, bis das Baby, wenn es sich physisch und bezüglich seiner Identität entwickelt, für sich selbst entscheiden kann? Aber nein, aus irgendeinem Grund wird ihm das Geschlecht mit dem Hammer eines Richters aufgedrückt, und es wird Junge oder Mädchen genannt, Mann oder Frau, Greis oder Greisin“.
Doch H. lässt uns nicht nur an ihrer Identitätsfindung teilhaben, nein, sie teilt mit uns auch den Horror des Krieges. Sie erzählt von ihrer schwangeren Cousine, deren Bauch ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat anfing, zu schrumpfen, „wie von Reue erfasst“. Sie erzählt von den Menschen, die im gleichen Schulgebäude waren wie sie, als die Bombe einschlug, und wie ihre Lehrerin sie mit einem stark deformierten Kopf um Hilfe anflehte und H. nichts tun konnte außer rennen. Weg vom Elend, das ihr gesamtes Leben erfüllt zu haben schien. Sie erzählt von ihrer Erziehung, dass in Japan der Begriff hibakusha für die Überlebenden der Atombombe verwendet wurde, ein Begriff, der wörtlich übersetzt „von einer Explosion betroffene Person“ bedeutet. H. erzählt davon, dass die Überlebenden sich bei den Toten entschuldigten, dass sie überlebt hatten, und dass der Begriff hibakusha die Katastrophe nicht im Ansatz zusammenfassen kann, zumal es sich nicht um irgendeine Explosion, sondern um die Explosion handelt. H. erzählt jedoch nicht nur von Japan, sondern von Diskriminierung und Eugenik auf der gesamten Welt. So lesen wir, dass im letzten Jahrhundert schwarzen Frauen bei „beliebigen chirurgischen Eingriffen“ heimlich ihre Eileiter abgebunden wurden. H. erzählt auch, was Jim in Kriegsgesfangenschaft durchleben musste und beruft sich dabei auf das Genfer Abkommen zur Behandlung von Kriegsgefangenen. Diese unfassbar vielen Themen bannt Perezagua auf 370 spannende Seiten, die natürlich auch gelegentlich ihre Längen haben. Doch der Erzählstil aus H.s Perspektive ist flüssig, wütend (zu recht!) und verdammt gut geschrieben. Auch wenn ich meine Zeit für „Hiroshima“ gebraucht habe, bei dieser Dichte an Informationen und Schmerz ist ein „Durchfliegen“ nicht möglich. Für dieses Buch sollte man daher ausreichend Zeit mitbringen.
Sofern es mir gestattet ist, ein Opfer, das von der Bombe profitiert hat, auch nur anzudenken, so bin ich dieses Opfer. Ich habe Körperteile verloren, Fleischstücke, Familienmitglieder, und niemand wird mich je für diese Verluste entschädigen können, doch ich habe anderes, womöglich noch Wichtigeres gewonnen. So hält mein Leben das Gleichgewicht zwischen dem Schmerz über das, was die Bombe mit sich fortgerissen hat, und dem Jubel über das Wundervollste, was sie mir schließlich gewährte.
Fazit: Wahnsinnig gut recherchiert, entführt „Hiroshima“ uns in eine Welt der Trauer, der Schrecken, der Brutalität. Da diese Geschichte ja nicht völlig aus den Wolken gegriffen ist, schaudert es mich ob der Detailtreue. Marina Perezagua hat hier wahrlich ein schauderliches Meisterwerk geschaffen, das mich tiefst erschüttert hat und noch lange nachgewirkt hat. Während ich gerade die Zitate einpflege, erschaudert es mich schon wieder. Eine absolute Leseempfehlung!
Dieses Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Klett-Cotta Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Marina Perezagua, Hiroshima. Klett-Cotta Verlag Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 373 Seiten ISBN: 9783608981360 Erschienen: 10.03.18
Ein toller Text zu einem anscheinend sehr wichtigen Buch. Erst kürzlich hat mir jemand dieses Buch als eines genannt, das sie in letzter Zeit am meisten beeindruckt und bewegt hat. Deine Besprechung deutet auf gleiches hin.
Liebe Grüße,
Sandra
Von diesem Buch hatte ich bisher nicht gehört, aber es klingt wirklich fantastisch. Über die Themen, die das Buch behandelt, wollte ich mich schon länger informieren, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie alle in einem Buch angesprochen werden. Das Buch ist gleich auf meine Leseliste gewandert. Danke für den Tipp.
LG
Elisa #litnetzwerk
Eine tolle Rezension, die dazu führt, dass das Buch auf meiner Wunschliste landet. So viele interessante Themen, die den Lesenden hinterfragen lassen- solche Bücher mag ich, auch wenn es kein “ leichter Stoff“ ist.
Liebe Grüße
Isabel