Quirlig, durchgeknallt und chaotisch — ein wilder Ritt zu Frankreichs wohl exzentrischsten Familie
Isabelle liebt Pierre, so viel steht fest. Doch sie wird ihn erst heiraten, wenn ihre Familie ihn für geeignet befunden hat. Also nimmt sie ihn mit auf das Landgut der Großeltern, wo sich die Familie jeden Sommer versammelt. Doch was Pierre für eine reine Formalität gehalten hat, entpuppt sich als wahrer Albtraum. Unversehens findet er sich unter Exzentrikern wieder: ein Großvater, der einer koreanischen Studentin schmachtende Haikus schreibt, eine Mutter, die als Cowgirl und Dessous-Designerin in Erscheinung tritt und eine Schwester, die sich für die Liebe als Pfau verkleidet. Um von ihnen akzeptiert zu werden, muss Pierre sich einer ganz besonderen Prüfung unterziehen… (zur Verlagsseite)
Bei diesem Titel aus dem aktuellen Programm des Atlantik Verlags hat mich primär das witzige Cover und der interessant klingende Klappentext angesprochen, „mal was Leichtes“, dachte ich mir noch. Da sollte ich noch mein blaues Wunder erleben, denn „leicht“ ist kein Adjektiv, das diesen Roman — oder diesen Wahnsinn — beschreibt! Sophie Bassignac nimmt uns in „Familiäre Verhältnisse“ auf einen Wochenausflug zu Pierre Réveillons zukünftigen-oder-vielleicht-auch-nicht Schwiegereltern mit, zu deren Beschreibung „exzentrisch“ noch harmlos klingt. Denn Isabelles Familie ist nicht so, wie Pierre sich das vorgestellt hat. Während sie ihre Familie als „liebenswert, charmant und eigensinnig“ bezeichnet, hält der streng und vernünftig erzogene Pierre es keine drei Tage mit den Pettigrews, Axilettes und Hivers aus, ehe er die Flucht ergreift. Nach Schlamm schmeckendes Essen, kuriose Gesprächsthemen, noch kuriosere Hobbys und dann noch ein Nacktbadestrand! Das ist dann doch wirklich zu viel des Guten. Dabei wollte er doch einfach nur den Segen der Familie, bevor er um Isabelles Hand anhält. Ob daraus noch etwas wird (aus dem Segen oder der Hochzeit?), ist unklar, aber Fakt ist, dass Pierre sich weder näher mit den Hühnern der Familie befassen mag und den Stier des Nachbarn auch nicht mehr so schnell wiedersehen möchte…
Isabelle stand nackt vor dem Spiegel im Bad und flüsterte etwa zehn Mal „Isabelle Réveillon“, um sich an den Klang ihres künftigen Namens zu gewöhnen. Sie überlegte sich, dass ihre Kinder eine doppelte Staatsbürgerschaft haben und zwei Sprachen sprechen würden, eine rationale und eine magische.
Was reichlich konfus und skurril klingt, ist in Wirklichkeit ein wahrhaft durchgeknalltes Buch — meine Zusammenfassung hält ihr Versprechen! Sophie Bassignac hat es geschafft, mich mit diesem 190 Seiten dünnen Band komplett auszulaugen, wobei das natürlich nicht nur negativ gemeint ist. Es ist schon unangenehm, den wohlerzogenen Pierre dabei zu begleiten, wie er die durchaus charmante und exzentrische Familie von seiner Liebe für Isabelle überzeugen will und dabei von einem Fettnäpfchen ins nächste tritt, die anderen dazu ihr Übriges unternehmen, ihn (unabsichtlich) immer wieder aufs Neue in ihm unangenehme Situationen zu bringen. Der nüchterne Pierre mit seiner eigenständigen Art, seinem ruhigen Wesen wird beim Familienbesuch nämlich nicht nur mit einer warmen, quirligen Art überrumpelt, sondern bekommt auch vor Augen geführt, was ihm bei seiner Erziehung gefehlt hat und er nun vermisst. Während Pierre seine kleine, überschaubare Familie immer für eine Art Familienunternehmen gehalten hat, in dem jeder seinen Beitrag zu leisten hat und keine Eskapaden jeglicher Art erwünscht sind und auch die Liebe zwischen seinen Eltern für ihn ein großes Tabu ist, lebt Isabelles Familie ihre Gefühle für jeden sichtbar aus.
Sophie Bassignac erzählt mit einer leichten Sprache von Pierres „Schicksal“ bei der kunterbunten Familie, sodass man regelrecht in die Geschichte hineingesogen wird. Jedoch hatte ich das Gefühl (ähnlich wie Pierre), dass es mir ab ca. Seite 100 zu bunt wurde. Doch während Pierre einfach alles hinter sich lassen kann, habe ich natürlich weitergelesen, aber leider ist der Spannungsbogen doch sehr abgeflaut im letzten Drittel. Zwar hatte ich das Gefühl, mich mit Pierre verbündet zu haben, dennoch konnten die letzten Seiten die ersten nicht wett machen. Die Autorin hat ihr gesamtes Exzentrik-Pulver bereits zu Beginn des Buchs verschossen und wie eine lange Schnur, an der alles baumelt und sich verknotet, durchs Buch gezogen. Dass das Chaos gibt, kann man sich denken.
Pierre machte das Fenster auf. Eine unglaubliche Milde und der kräftige Geruch des Hühnerhofs umhüllten ihn wie ein göttlicher Balsam. Mit nacktem Oberkörper und leerem Kopf stellte er fest, dass er sich nicht erinnern konnte, je so glücklich gewesen zu sein.
Fazit: Auch wenn das Buch trotz seiner Kürze seine Längen hatte, habe ich mich in der Geschichte und mit den Charakteren sehr wohl gefühlt. Jedes Familienmitglied hat seine eigene kleine Hintergrundgeschichte und seine Eigenheiten, die diesen irren Haufen direkt sympathisch machen. Dennoch habe ich mich während der Lektüre in Pierre wiedererkannt und mich mit ihm identifiziert, und das hat auch auf mein Bild der Familie abgefärbt. Alles in Allem kann ich Sophie Bassignacs „Familiäre Verhältnisse“ eingeschränkt weiterempfehlen, denn für ein faules Wochenende auf dem Balkon ist dies schon eine passende Lektüre — leicht, ungewöhnlich und charmant; wer jedoch ein Buch mit etwas mehr Substanz bevorzugt, ist hier fehl am Platze und greift vielleicht zu einem anderen Titel.
Dieses Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Atlantik Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Sophie Bassignac, Familiäre Verhältnisse, Atlantik Verlag Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 192 Seiten ISBN: 9783455001280 Erschienen: 24.04.18
Hey Tina,
eine zauberhafte Rezension. Ich finde es Wahnsinn wie viele positive Aspekte du erwähnst. Für mich war eine Aussage des Buches einfach bahnbrechend, nämlich die, die Familie selbst kennen zu lernen, anstatt sich auf das Gerede von Außenstehenden zu verlassen. Denn ganz ehrlich, wie schnell bilden wir uns mittlerweile eine Meinung nur weil es uns jemand sagt.
Die Familienstory im Buch war wirklich mal was anderes, wobei ich immer hin und her schwankte. Denn klar die Familie ist eigenartig, aber irgendwie hatte sie auch einen traurigen Hintergrund mit den ganzen Fremdgehereien. Klar sie leben dieses Leben und haben es akzeptiert, aber trotzdem klang es so, als wäre ihnen damit nicht immer ganz wohl. Vielleicht verstehst du ja was ich meine. ^^
Ich würde deine Rezension gerne verlinken, da sie wirklich toll wiedergibt, was dieses Buch ausmachte. Da wurde selbst ich grad richtig neidisch. ^^
Liebe Grüße und noch ein schönes Wochenende
Anja
Wow, danke für deine lieben Worte! ❤️ Schön, dass meine Texte gut ankommen, das freut mich wirklich.
„Was anderes“ drückt es ja noch sehr gemäßigt aus — aber ich muss sagen, ich hatte schon meinen Spaß!
Viele liebe Grüße zurück aus Hessen!
Tina