Subtiler Psychoterror um die Frage: Wer trägt die Schuld an einem Unfall?
Fünf Studenten aus Tokio wollen in einem abgelegenen Dorf zusammen ein paar Ferientage verbringen. Einer von ihnen, Hirosawa, kommt bei einem Autounfall auf einer kurvenreichen Bergstraße ums Leben. Drei Jahre später holt das schreckliche Ereignis die ehemaligen Studienkollegen ein. Sie erhalten anonyme Briefe, in denen sie des Mordes an ihrem Freund beschuldigt werden…
Im Sommer 2017 habe ich Kanae Minatos ersten Roman „Geständnisse“ gelesen. Dieser hat mir zwar vom Grundgerüst sehr gut gefallen, die Erzählweise (entgegen zur Erzählsprache) fand ich allerdings dezent furchtbar, da es aufgrund des Perspektivenwechsels sehr viele Überschneidungen der eigentlichen Geschichte gab. Wobei ich hier allerdings noch erwähnen muss, dass ich den Film dann kurze Zeit später gesehen habe (Amazon Prime) und total geflasht war. So blutig, spannend und nervenaufreibend! Es war ein Fest! (Da bin ich glatt versucht, dem Buch noch einen Versuch zu geben.) Dann entdeckte ich in den Verlagsvorschauen jedenfalls Minatos neuestes Werk, „Schuldig“. Ich muss zugeben, dass ich nicht zu 100 % sicher war, ob ich dieses Buch lesen wollen würde. Denn der Klappentext klang (und klingt) eher „meh“, denn Krimis rufen mich normalerweise nicht auf den Plan. Doch ich gab mir einen Ruck, und das war so ziemlich die beste Entscheidung, die ich im Mai getroffen habe! Denn obwohl mich der Klappentext wirklich nicht überzeugt hat, packte mich dann Kanae Minatos Art zu erzählen (keine Überschneidungen!), die fesselnde, aber trotzdem ruhige Handlung und nicht zuletzt das unfassbare Ende – es wurden sogar Tränen vergossen. Doch ich greife vor! Es geht um Fukase, der langsam eine gewisse Ordnung in sein Leben schafft. Er mag Kaffee, mausert sich aber nach und nach zum Gourmet, denn um die Ecke entdeckt er einen herausragenden Laden mit Café. Beruflich übt er eine relativ langweilige Tätigkeit aus: Er liefert Büroartikel aus – oftmals nur ein paar Mappen oder Blöcke, aber er mag seine Tätigkeit. Alles läuft in seinen geregelten Bahnen, bis seine Freundin ihn mit einem Zettel konfrontiert, den sie im Briefkasten hatte: »KAZUHISA FUKASE IST EIN MÖRDER!« steht darauf. Das wirft ihn aus der Bahn, denn tatsächlich hat er versucht, einen gewissen Moment seines Lebens zu verdrängen.
Vielleicht konnte ich diese schockierende Anschuldigung überhaupt nur aushalten, weil sich zuvor in einem entlegenen Winkel meines Bewusstseins bereits eine dunkle Ahnung geregt hatte, dass sich irgendwann alles zuspitzen würde.
Kanae Minato spinnt hier eine wirklich spannende wie tiefgreifende Geschichte. Fukase und einige Freunde machten einen Ausflug in die Berge, von denen einer, Hirosawa, Fukases bester Freund, nicht mehr zurückkehrte. Nachdem die Freunde sich jahrelang Vorhaltungen gemacht haben, wer die Schuld an diesem Unglück trägt, waren sie inzwischen etwas zur Ruhe gekommen, ihr Leben lief seinen gewohnten Gang, bis auf den Moment, wo Fukase – und nach ihm auch alle anderen beteiligten – diese Schmähbriefe auf die ein oder andere Art und Weise erhalten. Die Wunde wird aufgerissen und die Freunde beginnen erneut, sich mit dem Thema der Schuld auseinanderzusetzen. Wer war für Hiroswas Tod verantwortlich? Asami, der Hirosawa zum Biertrinken ermunterte – wohlwissend, dass dieser keinen Alkohol vertrug? Murai, der als Nachzügler abends spät noch vom Bahnhof abgeholt werden wollte? Oder Tanihara, der vorschlug, dass Hirosawa doch fahren sollte? Fukase ist sich sicher, dass ihn die geringste Schuld trifft, aber hätte er nicht auch vehementer argumentieren können, dass Hirosawa weder Alkohol trinken noch mitten in der Nacht eine Fahrt zum Bahnhof machen sollte? Während jeder möglichst viel Schuld von sich abwälzen möchte, taucht Fukase jedoch immer tiefer in eine Gedankenspirale und er beschließt, Hirosawas Eltern und Freunde zu besuchen, um alles über seinen besten Freund in Erfahrung zu bringen. Damit er wenigstens behaupten kann, ihn gekannt zu haben…
Obwohl ich mich zu Beginn gegen dieses Buch gewehrt habe, war dieser Widerstand spätestens nach fünf Seiten verpufft. Kanae Minatos Sprachstil hat mir bereits in ihrem Erstling gefallen und so fühlte ich mich gleich wohl. Die Geschichte baut sich zwar nur sehr langsam auf, und die eigentliche Story um besagte Nacht und den Unfall wird von einer Rahmenhandlung eingefasst, die stellenweise unterbricht, hinzufügt und auslässt. Und obwohl die Charaktere neben Fukase alle etwas blass aussehen, muss ich sagen, dass „Schuldig“ zu meinen absoluten bisherigen Jahreshighlights zählt – allein die Handlung hat unglaublich viel wett gemacht und es blieb bis zum Ende spannend. Obwohl ich hier (ebenso wie bei „Rainbirds“) nicht von einem konventionellen Spannungsaufbau, wie man ihn aus Thrillern kennt, sprechen kann – es ist viel mehr etwas Subtiles, das sich gemächlich aufbaut, aber nicht wirklich zum Vorschein kommt, mehr wie eine dunkle Vorahnung.
Fazit: Ein unglaublich tolles Buch. Wer asiatische Literatur mag, kann hier beherzt zugreifen. Allen, die nicht mit der oftmals sehr ruhigen und langsamen Erzählweise von japanischen Autoren vertraut sind, werden „Schuldig“ vermutlich eher langweilig finden, denn das Rätsel bleibt bis zur letzten Seite ungelöst und die Spannung ist wirklich sehr subtil. Für mich war dieses Buch jedoch ein absolutes Highlight! Zu einem weiteren Buch Minatos gibt es bereits eine Mini-Serie, ob es auch bald zu „Schuldig“ etwas filmisches zu sehen gibt? Wir bleiben gespannt!
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom C. Bertelsmann Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Kanae Minato / Schuldig / Gebundenes Buch, 318 Seiten / ISBN: 978-3-570-10367-8 / Erschienen am 22.04.19 / zur Verlagsseite
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