Sprachgewaltig, derb und sehr brutal – ein Buch, das nichts für jeden ist, aber jeden, der sich zur Lektüre traut, verschlingen wird!
Eine Reihenhaussiedlung am Waldrand, wie es viele gibt. Im hellsten der Häuser wohnt ein zehnjähriges Mädchen mit seiner Familie. Alles normal. Wären da nicht die Leidenschaften des Vaters, der neben TV und Whisky vor allem den Rausch der Jagd liebt. In diesem Sommer erhellt nur das Lachen ihres kleinen Bruders Gilles das Leben des Mädchens. Bis eines Abends vor ihren Augen eine Tragödie passiert. Nichts ist mehr wie zuvor. Mit der Energie und der Intelligenz einer mutigen Kämpferin setzt das Mädchen alles daran, sich und ihren Bruder vor dem väterlichen Einfluss zu retten. Von Sommer zu Sommer spürt sie immer deutlicher, dass sie selbst die Zukunft in sich trägt, wird immer selbstbewusster – ihr Körper aber auch immer weiblicher, sodass sie zusehends ins Visier ihres Vaters gerät.
Ich habe „Das wirkliche Leben“ von Adeline Dieudonné neulich Nacht in einem rauschhaften Lesefest beendet und muss wirklich sagen, dass es sich hierbei um eines meiner Jahreshighlights handelt!
Es geht um eine namenloses zehnjähriges Mädchen, das mit ihrem jüngeren Bruder und der „Amöbe“ – ihrer Mutter – unter der gewalttätigen Fuchtel ihres Vaters lebt und leidet. Dieser verliert regelmäßig wegen nichts und wieder nichts die Nerven (ein typischer Choleriker), ist besessen von der Jagd und verprügelt seine Frau bis aufs Blut. Die Kinder flüchten in ihr Zimmer oder raus – raus zum Eiswagen. Bis eines Tages ein Unglück geschieht und der kleine Bruder Gilles nicht mehr der Alte ist. Über den Verlauf eines Sommers wandern seine Augen immer tiefer in seine Höhlen, er interessiert sich mehr und mehr für die Jagd seines Vaters und für dessen Gewehre. Seine Schwester sieht nur einen Ausweg: eine Zeitmaschine bauen, mit der sie an den Tag des Unglücks zurückreisen und es ungeschehen machen. Und somit Gilles‘ Milchzahnlächeln wiederzugewinnen. Doch als sie bald selbst in den Fokus der Gewalt ihres Vaters gerät, kommt ihr Plan ins Wanken und sie muss sehen, dass sie mit heiler Haut davonkommt – und überlebt.
Da rief ich mir ins Gedächtnis, dass das, was ich da sah, letztlich nicht von Bedeutung war – weil ich schon bald mit meiner Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen würde. In meiner neuen Zukunft, in meinem wirklichen Leben würde all das nicht geschehen.
„Das wirkliche Leben“ beginnt dabei harmloser als es nicht sein könnte: mitten im normalen Familienalltag zwischen Mutter, Vater, Tochter und Sohn. Unsere Protagonistin, die den Roman über namenlos bleibt, ist gerade einmal zehn Jahre alt. Sie und ihr jüngerer Brüder Gilles spielen draußen, genießen die schulfreien Stunden und kehren zum gemeinsamen Abendessen wieder zurück nach Hause. Hier kippt die Idylle, der Leser kann zum ersten Mal hinter die Fassade des Vaters blicken und erkennt die darunterliegenden Probleme, mit denen die Familie Tag für Tag kämpfen muss. Die beiden Kinder versuchen bisher, die häusliche Gewalt an der Mutter und die Tyrannei des Vaters gemeinsam zu verarbeiten, doch als das oben erwähnte Unglück geschieht, zieht Gilles sich mehr und mehr zurück und wird dem Vater immer ähnlicher. Sie gehen gemeinsam auf die Jagd, begeistern sich für Waffen und unsere Protagonistin hat Schwierigkeiten, ihren Bruder noch wiederzuerkennen. Doch obwohl sie sowohl für ihren Vater als auch mittlerweile ihren Bruder immer mehr das Ziel für Hohn, Spott und Gewalt wird, denkt unsere Protagonistin nicht daran, sich in der Opferrolle einzufinden; sie ist eine Kämpferin, die für ihr Alter wirklich überraschend mutig ist.
Mein Vater schlug meine Mutter zusammen – und den Vögeln war das egal. Ich fand das tröstlich. Ich fand es tröstlich, dass sie einfach weiter zwitscherten, dass die Bäume knarrten und der Wind in den Blättern der Kastanie rauschte. Ich war nur eine unbedeutende Zuschauerin bei dem Stück, das ununterbrochen aufgeführt wurde.
Dieses Buch ist tatsächlich das Romandebüt der Autorin – ein Fakt, der mich genauso wie das Buch selbst umgehauen hat! Die Erzählsprache ist so derb, ungeschönt und doch so kindlich ehrlich, dass jeder Satz wie eine Nadel unter die Haut geht. Adeline Dieudonné versteht definitiv ihr Handwerk und weiß den Leser zu packen und ihn in völlig unerwartete Gefilde zu schleudern. Es gibt zahlreiche Passagen, die nichts für Zartbesaitete sind und bei denen ich das Buch fast schon aus der Hand legen musste. Aber eben nur fast – denn das Schicksal der jungen Protagonistin hat mich so berührt und gefesselt, dass ich erst mit dem Lesen aufhören konnte, als die letzte Seite umgeblättert war.
Fazit: Ein sehr unangenehmer Roman, der unter die Haut geht und den ich allen Fans von etwas härterem Tobak, wie etwa „Wolfsegg“, „Mein Ein und Alles“ oder „Fay“, sehr empfehlen kann.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom dtv Verlag als Rezensionsexemplar im Rahmen einer Vorablesen Leserunde zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Adeline Dieudonné / Das wirkliche Leben / dtv Verlag / Gebundenes Buch, 240 Seiten / ISBN: 978-3-423-28213-0 / Erschienen am 24.04.20 / zur Verlagsseite