Überwältigend, brutal und nervenzerreißend – Turtles Geschichte lässt den Leser verstört und erschöpft zurück.
Turtle Alveston ist eine der unvergesslichsten Heldinnen der jüngeren Literatur. Die 14-Jährige wächst abgeschieden in den nordamerikanischen Wäldern auf, wo sie jede Pflanze und jede Kreatur kennt. Auf ihren tagelangen Streifzügen in der Natur sucht sie Zuflucht vor der besitzergreifenden Liebe ihres ebenso charismatischen wie obsessiven Vaters. Erst als sie Jacob, einen Jungen aus ihrer Schule, näher kennenlernt und wahre Freundschaft erfährt, beginnt sie sich langsam aus den Klauen ihres Vaters zu lösen. Aber Martin kann und will seine Tochter nicht loslassen. Es beginnt ein Kampf auf Leben und Tod.
Gabriel Tallents wunderschön anzusehender Debütroman „Mein Ein und Alles“ verfolgte mich bereits einige Zeit auf Social Media, bevor ich mich genauer mit dem Klappentext befasste und beschloss, dass ich dieses Buch lesen muss. Ich weiß allerdings gar nicht so recht, wie ich meine Gedanken zu diesem Buch in Worte fassen soll, denn an so vielen Stellen habe ich das Buch mit offener Kinnlage angestarrt, es verflucht und für Turtle geweint. Es geht um die toxische, obsessive und destruktive Beziehung zwischen Martin und Turtle, seiner Tochter. Die beiden wohnen weit ab vom Schuss in den Wäldern, einzig allein Martins Vater Daniel wohnt in einem alten Wohnwagen in der Nähe des Häuschens. Martin vereinnahmt und überschattet Turtles Leben komplett, dass er ihr überhaupt zugesteht, zur Schule zu gehen, hat mich verwundert. Und schon jetzt in ich an einem Punkt, an dem ich weiß, dass meine die Beziehung der beiden beschreibenden Verben nicht ausreichen werden. Denn nicht nur missbraucht er Turtle nahezu täglich psychisch, sondern auch physisch – wie lange er das schon tut, kann man mit Verlauf der Geschichte nur erahnen. Das ist dann der Zeitpunkt, wo die Gänsehaut beim Lesen nicht mehr weggeht. Zudem sind im Hause Alveston Waffen nichts Besonderes, Turtle hat eine Knarre, die sie täglich reinigt, und auch Martin scheint ein ganzes Arsenal zu beherbergen. Die Kombination Choleriker Martin und zahlreiche Waffen im Haus führen zu allerhand unangenehmen Situationen, denen Turtle nicht entfliehen kann. Das junge Mädchen weiß durch ihren abgeschiedenen Alltag nicht, wie man mit Menschen kommuniziert; soziale Skills fehlen ihr schlicht. Auch schulisch läuft es nich≥–t gut, weshalb ihr Vater langsam, aber sicher auch in den Fokus der Schulbehörde gerät. Doch Turtle schweigt sich aus und so läuft alles weiter wie immer.
Du springst hart mit mir um, aber du bist auch gut für mich, ich brauche Härte. Ich brauche deine Härte, weil ich nicht gut für mich selbst bin und du mich zwingst zu tun, was ich tun will, aber nicht für mich tun kann; und trotzdem, und trotzdem…
Bis sie eines Tages zwei in den Wäldern herumirrende Jungs in ungefähr ihrem Alter aufliest. Sie hilft den beiden, wieder nach Hause zu finden und freundet sich mit ihnen an. Das erste Mal, dass Turtle Freunde hat. Martin ist natürlich wenig begeistert und lässt seine Wut an seinem „Ein und Alles“ aus – Turtle humpelt hinterher wochenlang und ist von blauen Flecken übersät, die ihren Großvater auf den Plan rufen. Und hier beginnt langsam der innere Kampf Turtles, die sich endlich gegen ihren Vater, den sie trotzdem liebt, auflehnen will. Doch Gabriel Tallent hat für seine Protagonistin ein schweres Schicksal auserkoren, denn immer, wenn man denkt, jetzt macht sie den Mund auf, jetzt wehrt sie sich, kommt der nächste Schlag. Wenn man das Buch dann aus der Hand legt, ist man erschöpft, zerrüttet und braucht erst einmal eine Pause von diesem Buch und der Welt.
Fazit: Gabriel Tallent spielt mit den Emotionen des Lesers wie kein anderer. Von himmelhoch jauchzend und voller Freude für Turtle zu schreckerfülltem Starren auf die Seite in einem Absatz. „Mein Ein und Alles“ ist wohl das Gegenteil von einem Feel-Good-Buch und nimmt den Leser ziemlich mit. Wer sich nicht gegen harte Themen sträubt, für den kann ich Tallents Roman vollends empfehlen. Für alle anderen kann ich gar nicht genug Triggerwarnungen aussprechen. Mir spukt dieser Roman jedenfalls jetzt noch im Kopf rum und ich glaube, da wird sie auch noch eine Weile verbleiben. Turtle und ihre Geschichte sind einfach überwältigend.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Penguin Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Gabriel Tallent / Mein Ein und Alles / Penguin Verlag / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 478 Seiten / ISBN: 978-3-328-60028-2 / Erschienen am 24.09.18 / zur Verlagsseite
Andere Meinungen:
Hallo!
Ich habe mir das Buch letztens gekauft, nachdem ja so viele unterschiedliche Meinungen online finden. Bisher habe ich es aber nicht begonnen. Das muss ich jetzt endlich nachholen, weil es weiterhin so interessant klingt und ich sehr gespannt bin, welche Meinung ich hinterher haben werde.
Liebe Grüße
Franziska
Hallo Tina,
oh es ist wirklich so, dass man zu Beginn eines Absatzes lacht, nur um wenige Sätze später vollkommen geschockt zu sein. Dieses Spiel mit den Emotionen ist geradezu verrückt. Mir hat das Buch auch sehr gut gefallen, natürlich ist es kein einfacher Stoff, aber die Umsetzung ist großartig! Diesen Autor werde ich mir definitiv merken 🙂
Liebe Grüße
Anna