Kurzweilig, mit einem liebevoll gezeichneten Protagonisten, aber am Ende doch leider zu beliebig, um im Kopf zu bleiben.
Micah Mortimer liebt Gewohnheiten, Selbstgespräche und eine ordentliche Wohnung. Jeden Tag beginnt er mit einem Morgenlauf um 7.15 Uhr, duscht, frühstückt und widmet sich anschließend geduldig den Computerproblemen seiner Kunden aus der Nachbarschaft. Nachmittags ist er im Nebenjob Hausmeister und kümmert sich um das Mietshaus, in dem er wohnt; ein paar Abende die Woche verbringt er auf der Couch seiner unkomplizierten Freundin Cass. Doch dann droht Cass die Wohnungskündigung, und sie möchte bei ihm einziehen. Und ein Teenager taucht auf, der behauptet, sein Sohn zu sein.
Als ich Anne Tylers „Der Sinn des Ganzen“ in der Vorschau des Kein & Aber Verlags entdeckt habe, musste ich sofort an einige Bücher denken, die ich sehr gerne mag, etwa „Ich, Eleanor Oliphant“ oder „Das Rosie-Projekt“. Micah Mortimer klingt ebenfalls herrlich verschroben und schrullig – oder vielleicht auch ein wenig autistisch, aber meine Vermutung wurde bei der Lektüre weder bestätigt noch widerlegt. Unabhängig davon lese ich Geschichten „dieser Art“ gern, in denen die Protagonisten Schwierigkeiten haben, sich mit der Welt um sie herum anzufreunden, und sich auch mit sozialen Interaktionen etwas schwer tun. Vielleicht, weil ich mich da ein wenig wiederfinde. Jedenfalls geht es in diesem Buch um das bisher beschauliche und geordnete Leben unseres Protagonisten Micah. Der Tech-Eremit kümmert sich um die größeren und kleineren Computerprobleme der älteren (in seltenen Fällen auch jüngeren) Kundschaft und kehrt abends in seine beschauliche, aber sehr saubere Wohnung zurück, in der er alleine wohnt – bis seine Langzeitfreundin Cass beschließt, dass sie die Faxen dicke hat und ihre subtilen Hinweise, sie würde gern mit Micah zusammenziehen, deutlicher formuliert und infolgedessen ein Streit entbrennt. Völlig aufgebracht und auch verwirrt von der Situation muss Micah sich der Tatsache stellen, dass die beiden nun nicht länger ein Paar sind. Während seine fragile Ordnung einen gehörigen Riss bekommen hat, taucht noch der junge Brink auf, der sich bei ihm einnistet und fest davon überzeugt ist, Micahs Sohn zu sein – der wiederum nie mit Brinks Mutter geschlafen hat. Während die beiden also darauf warten, dass Brinks Mom auftaucht, um selbigen abzuholen, entspinnt sich ein interessanter Dialog und Micah verlässt in der Zeit mit Brink häufiger seine Komfortzone, als er sich kurz zuvor beim Streit mit Cass noch hätte vorstellen können…
Im Umgang mit Menschen kam es ihm manchmal so vor, als würde er einen Greifer bedienen, einen dieser Spielzeugautomaten an Strandpromenaden, mit denen man einen Preis zu grapschen versuchte, was jedoch fast nie gelang, weil sich die Kralle nur ungenau bewegen ließ und man viel zu weit weg stand.
Micah ist ein interessanter Charakter. Seine (Ex-)Freundin wirft ihm Gefühlskälte vor, er ist sich jedoch keines Fauxpas seinerseits bewusst und analysiert das Geschehen einfach logisch. Protagonisten wie er sind mir bereits zahlreich in Romanen begegnet, manchmal mehr, manchmal weniger stereotyp (hier zum Glück letzteres). Anne Tyler zeichnet ihn jedoch liebevoll und eigentlich auch charmant – wäre da nur nicht sein Drang nach Ordnung. Er hält sich mit einem Nebenjob als Hausmeister seines Wohngebäudes und seiner selbstständigen Tätigkeit als selbsternannter Tech-Eremit über Wasser, hat ein Buch zum Thema Computerprobleme geschrieben („Erst mal den Stecker rein“) und lebt gemütlich in sein Leben hinein. Die Beziehung zu Cass war immer unaufgeregt und beiderseitig eher entspannt, weshalb ihn der Bruch doch mehr belastet, als er zunächst angenommen hat.
Das Geschehen plätschert so vor sich hin, und zwischen Familientreffen und Eremiten-Terminen kümmert sich Micah um den bei ihm aufgeschlagenen Brink. Die aufgekommene Unordnung zwingt ihn, seinen Charakter und sein Verhalten kritisch zu überdenken – es kommt jedoch nicht, wie häufiger Romanen mit „neurotischen“ Charakteren, zu einem Happy End, weil er sich erfolgreich angepasst hat. Ganz im Gegenteil, Micah bleibt er selbst und das finde ich sehr gelungen und vor allem erfrischend! Der flüssige Schreibstil Tylers trägt dazu bei, dass sich „Der Sinn des Ganzen“ wunderbar leicht lesen lässt. Was aber auch leider dazu führt, dass von dem Gelesen zumindest bei mir nicht sehr viel hängen geblieben ist.
Fazit: Ich muss gestehen, dass Anne Tylers Werk gut zwei Monate nach der Lektüre nicht mehr allzu präsent ist, was nicht so ideal ist, da ich Büchern gerne sacken lasse und ihnen etwas Abstand geben mag, bevor ich sie rezensiere. Grund dafür mögen die gemächliche Handlung oder auch die zwar gut gezeichneten, aber leider nicht denkwürdigen Charaktere (außer Micah natürlich!) sein. Trotzdem hat mir das Buch einige schöne Lesestunden beschert. „Der Sinn des Ganzen“ ist also eine tolle, kurzweilige Lektüre für einen faulen Samstag auf dem Balkon – in der anderen Hand einen schicken Drink.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Kein & Aber Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Anne Tyler / Der Sinn des Ganzen / Kein & Aber Verlag / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 224 Seiten / ISBN: 978-3-0369-5820-0 / Erschienen am 03.03.20 / zur Verlagsseite