Ein bezaubernder Erzählstil, eine komplex verwobene Geschichte, die den Einstieg etwas schwer macht, aber die den Leser unheimlich belohnt – wow!
Sechzehn Jahre ist es her, dass sie ihre Mutter zuletzt gesehen hat. Die Hälfte ihres Lebens hat sie versucht, ihre Kindheit zu vergessen – die Zeit auf dem Fluss, auf einem Hausboot, frei und ungebunden. Die Jahre danach, als ihre Mutter plötzlich weg war und sie bei Pflegeeltern unterkam. Gretel hat nicht aufgegeben, bei Kliniken, Leichenhäusern und Polizeistationen nachgefragt. Dann bringt ein Anruf die beiden wieder zusammen. Doch die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen. Während das Erinnerungsvermögen der Mutter zusehends schwindet, will die Tochter endlich verstehen. Warum wurde sie im Stich gelassen? Was ist damals geschehen, in jenem letzten Winter auf dem Fluss?
Der btb Verlag bringt aktuell einige Titel als „Selection“ heraus – „Elmet“ hatte ich ja bereits gelesen (Begeisterung!), bei der Suche nach weiteren Selection Titeln bin ich dann auf Daisy Johnsons „Untertauchen“ gestoßen, ein gefeiertes und prämiertes Buch von einer jungen Autorin. Der Klappentext klang gut, sodass es relativ schnell im Briefkasten landen durfte. Gestern habe ich es dann beendet und bin zwar noch etwas erschöpft (im positiven Sinne), dennoch möchte ich meine Gedanken zu diesem Buch sammeln, solange sie noch frisch sind. Es geht also um Gretel, die die letzten zehn Jahre ihres Lebens immer wieder neue Versuche gestartet hat, ihre plötzlich verschwundene Mutter Sarah aufzuspüren – diesmal ist ihre Suche nun endlich von Erfolg gekrönt. Jedoch leidet ihre Mutter offenbar an fortgeschrittener Demenz oder möchte gewisse Dinge schlicht verdrängen. Und während Gretel behutsam versucht, ihrer Mutter die Geheimnisse der Vergangenheit zu entlocken, verfolgen wir als Leser auch Margots Geschichte – die 16 Jahre vorher spielt. Margot, selbst noch ein Teenager, ist nach einer sie betreffenden Zukunftsvision ihrer Nachbarin wie der Blitz von zu Hause weggelaufen und schlägt sich jetzt durch die Wildnis, immer am Fluss entlang. Während ihrer nicht immer einfachen Reise findet sie zu sich selbst, nennt sich fortan Marcus, und stößt auf das Hausboot von Gretel und ihrer Mutter. Und so verweben sich beide Geschichten…
Ich habe dir all meine Fundstücke aus dem Wald oder aus dem Wasser gebracht: von der Strömung geschliffene Steine, Sauerampfer, Schnecken, die du in Knoblauch und Butter gebraten hast. Du hast den Schlauch in die Luft gehalten, und wir haben gemeinsam auf dem Pfad geduscht, während deine Hände die Knoten in meinen Haaren entwirren wollten, wie Rätsel, deren Lösungen du bereits kanntest.
Zunächst ist es mir schwer gefallen, so richtig in die Geschichte abzutauchen, denn diese wird aus drei (plus eine seltene, vierte) Perspektiven erzählt, die es besonders zu Beginn des Romans schwierig machen, dem Geschehen zu folgen. Wir verfolgen in einem Erzählstrang in der nahen Vergangenheit Gretel auf der Suche nach ihrer Mutter mit Einblicken in ihre Kindheit und Jugend am Fluss („Jagd“), in der Jetztzeit die Gespräche und den Alltag von Gretel und ihrer Mutter, nachdem sie sich gefunden haben und zusammen in einem Haus leben („Das Cottage“), und Margots 16 Jahre zurückliegende Flucht und das Zusammentreffen mit Sarah und Gretel („Der Fluss“).
Erst nach und nach baut sich ein großes Gesamtbild auf, das im Laufe der Lektüre auch zu einigen „Oha!“-Momenten führt. „Untertauchen“ besticht mit seiner lyrischen, bildlichen Sprache, die mich stark an Max Porters Werke erinnert hat: So werden bspw. einige Fantasiewörter verwendet. So unter anderem auch der Bonak – die imminente, hinter jedem Busch lauernde Bedrohung, vor der sich Gretel und ihre Mutter sehr fürchten.
Fazit: Auch, wenn der Einstieg mir nicht so leicht gefallen ist, wurde ich im Nachhinein belohnt, denn „Untertauchen“ ist ein Roman, dessen Schönheit sich erst nach und nach entfaltet. Es geht dabei nicht nur um Gretels Kindheit und Aufwachsen auf einem Hausboot und den Alltag am Fluss, sondern auch um Themen wie Zugehörigkeit, Identität und Transgender. Daisy Johnsons Schreibstil hat mich nach einigen Kapiteln wirklich richtiggehend gefesselt, sodass ich das Buch nur ungern aus der Hand gelegt habe. Definitiv ein Lese-Highlight! Ich werde auf jeden Fall die kommenden „btb Selection“-Titel näher beäugen, da scheinen sich ja einige Perlen zu verstecken. 🙂
Es wurde schlimmer. Die Tage verliefen nicht geradlinig, sie duckten sich weg und schwebten majestätisch zurück.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom btb Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Daisy Johnson / Untertauchen / btb Verlag / Taschenbuch, 304 Seiten / ISBN: 978-3-442-71780-4 / Erschienen am 14.09.20 / zur Verlagsseite