Eine wunderbare Familiengeschichte darüber, wie das Wissen über den eigenen Todestag unser Leben beeinflussen kann und unser Handeln in bestimmte Wege leitet.
Wie würdest du leben, wenn du wüsstest, an welchem Tag du stirbst? Sommer 1969: Wie ein Lauffeuer spricht sich in der New Yorker Lower East Side herum, dass eine Wahrsagerin im Viertel eingetroffen ist, die jedem Menschen den Tag seines Todes vorhersagen kann. Neugierig machen sich die vier Geschwister Gold auf den Weg. Nichtsahnend, dass dieses Wissen für jeden von ihnen auf unterschiedliche Weise zum Verhängnis wird. Simon, den Jüngsten, zieht es Anfang der 1980-er Jahre nach San Francisco, wo er nach Liebe sucht und alle Vorsicht über Bord wirft. Klara, verwundbar und träumerisch, wird als Zauberkünstlerin zur Grenzgängerin zwischen Realität und Illusion. Daniel findet nach 9/11 Sicherheit als Arzt bei der Army. Varya wiederum widmet sich der Altersforschung und lotet die Grenzen des Lebens aus. Doch um welchen Preis?
Familiengeschichten lese ich nur äußerst selten und auch nur dann, wenn mich der Klappentext und die Besprechungen online mich überzeugen. „Die Unsterblichen“ von Chloe Benjamin geisterte bereits seit geraumer Zeit in meinem englischsprachigen Feed herum, hat mich aber nicht 100% angesprochen, und als es dann im Deutschen erschien, wurde es irgendwie immer präsenter, sodass ich mich erneut mit diesem Buch befassen musste. Und diesmal beschloss ich, es zu lesen. Spoiler: beste Entscheidung! Chloe Benjamins Buch berichtet über vier Geschwister, die sich in jungen Jahren dazu hinreißen lassen, sich das Datum ihres Todestages voraussagen zu lassen. So weit, so gut! Zu Beginn mag der Leser nicht erahnen, welche weitgreifenden Auswirkungen der Besuch der Wahrsagerin auf das Leben der Geschwister haben wird, doch sehr bald wird klar, dass die Vorhersage die Vier tagtäglich, jeden Tag ihres noch so turbulenten Alltags, begleiten wird…
Die meisten Erwachsenen behaupten, sie würden nicht an Magie glauben, doch Klara weiß es besser. Aus welchem anderen Grund würden Menschen sonst sich verlieben, Kinder in die Welt setzen, Häuser kaufen, obwohl die Welt voller Beweise dafür ist, dass nichts von Dauer ist.
Wir lernen die vier Geschwister Varya, Daniel, Simon und Klara kennen, als sie zwischen sieben und dreizehn Jahren alt sind, also relativ zu Beginn ihres Lebens. Doch bereits in Kürze wird die Familie in Chaos gestürzt, als Saul, der Familienvater, stirbt, und Gertie mit ihren Kindern allein zurücklässt. Die Kinder sind verstört, bemühen sich jedoch Gertie zuliebe, tapfer zu sein, während Gertie an der Trauer zu zerbrechen droht. Die verantwortungsbewusste Varya übernimmt von diesem Moment an das Ruder, doch als Klara und Simon, denen beiden ein recht frühes Sterbedatum vorhergesagt wurde, das Elternhaus verlassen möchten, um ihr Leben voll auszukosten, kommt es zum Streit: Anstatt sich um ihre immer unglücklichere Mutter zu kümmern, möchte Klara ihr Leben nutzen, um nach dem Vorbild ihrer Großmutter Zauberin zu werden, und Simon zieht es nach San Francisco, wo er endlich seine Homosexualität ausleben kann. Die vier Gold-Kinder werden auseinander gerissen und alle gehen ihren Weg – bis der erste Todesfall eintritt.
Über „Die Unsterblichen“ zu schreiben, ohne zu spoilern, fällt mir unglaublich schwer. Es passiert einfach zu viel und vieles davon ist vermutlich der Vorhersage des Todesdatums jedes Einzelnen geschuldet. Chloe Benjamin regt mit ihrem Roman zum Nachdenken an, wie bereits der Klappentext einläutet: „Wie würdest du leben, wenn du wüsstest, an welchem Tag du stirbst?“ – und ich muss sagen, dass sich meine Antwort vor und nach der Lektüre voneinander unterscheidet. Natürlich wäre es praktisch zu wissen, wann man stirbt, zum Beispiel um Vorkehrungen zu treffen, sich rechtzeitig von unnützem Besitz trennen kann, damit die Nachfahren nicht allzu viel Arbeit haben, und vor allem das Leben so auszukosten, dass man bis zum letzten Tag erfüllt lebt. Doch nach der Lektüre von Chloe Benjamins Buch muss ich zugeben, dass ich mein Sterbedatum lieber doch nicht wissen möchte. Wie die vier Geschwister mit dem Wissen umgehen, ist unterschiedlich, und doch beeinflusst es die Lebensgestaltung eines Jeden, obwohl sie das so vielleicht nicht sofort sehen oder zugeben mögen. Das Wissen über den Todestag wird immer mehr zum Laster, das immer schwerer auf den Schultern wiegt.
»Das Leben besteht nicht darin, dem Tod die Stirn zu bieten […]. Man muss sich auch selbst überwinden, auf der Verwandlung insistieren. Solange man sich selbst verwandelt, meine Freunde, stirbt man nicht. Was haben Clark Kent und ein Chamäleon gemeinsam? Kurz bevor sie getötet werden, verwandeln sie sich. Wo sind sie hin? Wir können sie nicht mehr sehen. Das Chamäleon ist zu einem Zweig geworden, Clark Kent zu Superman.«
Fazit: Auf knapp 480 Seiten schafft Chloe Benjamin es, die Geschichte der Kinder der Gold-Familie (und die derer Eltern) so ergreifend und packend zu erzählen, dass über das gesamte Buch keine Längen aufkommen und ich es am liebsten in einem Rutsch verschlungen hätte. Nacheinander wird das Leben von unseren vier Protagonisten beleuchtet, wobei der Tod immer hinter der nächsten Ecke zu lauern scheint. Dass man als Leser zu Beginn des Buches bereits weiß, wer (ungefähr) wann sterben wird, macht die Geschichte nicht weniger spannend, sogar ganz im Gegenteil – macht es umso interessanter, da deutlich wird, was jeder der Vier mit dem Wissen anstellt und wie es das eigene Handeln beeinflusst.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Bloggerportal / btb Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Chloe Benjamin, Die Unsterblichen. btb Verlag, gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 476 Seiten. ISBN: 978-3-442-75819-7. Erschienen am 29.10.18. Zur Verlagsseite
Weitere Meinungen:
Hallöchen,
ich habe das Buch im Dezember gelesen und mich hat es eher mit gemischten Gefühlen zurückgelassen. Einerseits fand ich die Idee klasse und habe so ein bisschen mitgefiebert, wie das Schicksal den Gold-Geschwistern mitspielt nur weil sie ihren Todestag wissen. Andererseits fand ich eben nicht, dass Chloe Benjamin packend und ergreifend erzählt. Mir hat während des Lesens irgendwie einfach etwas gefehlt. Erst am Ende bei Varyas Geschichte konnte mich das Buch so richtig emotional berühren.
Aber es ist schön, dass dir dieses gewisse Etwas nicht gefehlt hat und du das Buch genießen konntest.
Liebste Grüße, Kate
P.S. Ich verlinke deine Rezension bei meiner 🙂