Ein grausames, schmerzhaftes und vor allem sehr wichtiges Buch über die Grauen, die wir hier in der westlichen Welt vielleicht nicht vernommen haben.
„Ich kämpfe, jeden Tag. Ich kämpfe gegen die Schande, überlebt zu haben und immer noch am Leben zu sein. Ich kämpfe gegen die Tatsache, dass ich ein Mensch bin. Und Sie, ebenso ein Mensch wie ich, welche Antworten können Sie mir geben?“ — Ein Junge ist gestorben, und die Hinterbliebenen müssen weiterleben. Doch was ist ihnen ihr Leben noch wert? Han Kang beschreibt in ihrem neuen Roman, wie dehnbar die Grenzen menschlicher Leidensfähigkeit sind. Ein höchst mutiges Buch und ein brennender Aufruf gegen jede Art von Gewalt. (zur Verlagsseite)
Nachdem ich im Januar die englische Ausgabe der „Vegetarierin“ von Han Kang gelesen habe, war mir klar, dass ich auch ihre nächsten Werke lesen würde. Und so musste doch direkt bei Erscheinen Kangs neues Buch „Menschenwerk“ her. Es geht um das Gwangju-Massaker, das 1980 in Korea stattgefunden hat. Ich muss sagen, ich hatte noch nie etwas darüber gehört und war geschockt, dass so etwas meinen Wissenshorizont scheinbar verfehlt hat. Nicht, dass ich zu der Zeit schon gelebt hätte, aber in keiner Geschichtsstunde, an die ich mich erinnere, wurde sich außerordentlich mit Korea beschäftigt. Jedenfalls versucht Han Kang hier nicht, eine detailgetreue Wiedergabe von außerhalb und oberhalb vorzunehmen, sondern sie berichtet aus verschiedenen Perspektiven und auch aus verschiedenen Zeiten, wie dieses Massaker sich aus Studentenprotesten ergeben hat und welche Grausamkeit verübt wurde. Aus Sicht der verschiedenen Protagonisten bekommt der Leser aus erster Hand mit, wie Menschen gefoltert werden, was für ein Leid sie sehen, was für ein Elend sie erfahren müssen. „Menschenwerk“ ist kein Buch für zarte Mägen und Wesen. Es beschreibt die Erlebnisse, die selbst Kindern widerfahren sind, und nimmt kein Blatt vor den Mund, nicht, um zwingend zu schockieren, sondern um wiederzugeben, was geschehen ist.
Der Leser verfolgt verschiedene Charaktere, vom Schüler Dong-Ho, seiner Familie bis zu Menschen, deren Wege er kreuzt. Was mir in der „Vegetarierin“ gar nicht so aufgefallen ist und auch vielleicht an der deutschen Übersetzung liegen mag, ist die eigenartige Erzählweise. Von oben herab wird teilweise erzählt, aber nicht als allwissender Erzähler, sondern viel mehr als eine Seele, die den Protagonisten begleitet und fühlt, was er fühlt, aber nicht mehr weiß als er und auch vielmehr seine Taten und Gedanken in Worte fasst:
Du fragst dich, wohin die Seele wandert, wenn der Körper stirbt. Wie lange bleibt sie noch in der Nähe ihrer sterblichen Hülle? […] Wenn ein Trauernder einen Verstorbenen betrachtet, steht dann dessen Seele daneben und betrachtet das Gesicht seiner irdischen Hülle?
Han Kangs Erzählweise ist zunächst ungewohnt, man benötigt einige Seiten, um sich einzufinden. Dann tritt sofort die Sogwirkung des Buches ein und man kann sich nur noch schwer losreißen, auch, wenn man gar kein Zeuge dieses Grauens werden möchte. Wir verfolgen auch einen gefangenen Protestanten während seiner Folter. Diese Kapitel sind definitiv nichts für zarte Gemüter. Wessen Magen sich bei plastischen Beschreibungen in diesem Szenario umdrehen könnte, überfliegt vielleicht lieber einige Seiten, wobei dann natürlich auch ein Teil der Wirkung des Buchs verpufft.
Die Frage nach dem Weiterleben der Seele nach dem Tod der menschlichen Hülle ist eine grundlegende in diesem Werk. Diverse Seelen begleiten uns in „Menschenwerk“ und wir erhaschen Einblicke in das, was möglicherweise geschieht nach dem Tod. Ein weiteres zentrales Thema ist der Wert eines Lebens, besonders nach einer Tragödie. Warum überlebt der Eine, während der Andere sterben muss? Und was ist das Leben noch wert, wenn man erst dieses Grauen gesehen hat, das einen bis ans Lebensende verfolgt? Wie könnte man nur eine Sekunde dieses Lebens noch genießen, wenn man überlebt hat, während tausende andere gestorben sind? Mit diesen Fragen setzt Han Kang sich kritisch auseinander, lässt uns die Schicksale ihrer Figuren erfahren und mit ihnen leiden.
Jeden Tag betrachte ich die Narben auf meiner Hand. Ich streiche über die Stellen, an denen der Knochen offen gelegen hatte […]. Ich warte darauf, dass die Zeit alle Wunden heilt. Darauf, dass der natürliche Tod mich ein für alle Mal erlösen wird von der Erinnerung an den schmutzigen Tod, der mich Tag und Nacht verfolgt.
Fazit: Han Kang hat hier ein Kleinod geschaffen. Nicht, weil es ein Buch ist, das ich an einem Tag verschlingen musste, sondern weil eine so wichtige, von den westlichen Medien damals nicht genau erfasste Tragödie hier an den Menschen gebracht wird. Unser Leiden ist gefragt, unser Mitgefühl. Kang ist jedoch nicht auf Mitleid aus, sondern möchte lediglich auf die Ereignisse aufmerksam machen und uns dieses näher bringen. Das Seelenleben eines Menschen ist ein zentrales Thema in diesem Roman und die Autorin versucht, in Worte zu fassen, was sich vermutlich nach dem Tod abspielt, wie der Mensch als Seele das Geschehene wahrnimmt, ob er von den Grausamkeiten seines Lebens erlöst wird. „Menschenwerk“ ist ein Buch, das nicht jedem gefallen wird, einen ungewöhnlichen Erzählstil aufweist und viel vom Leser abverlangt. Nichts für zwischendurch und ebenfalls nichts für den gelegentlichen Leser, der Entspannung in Büchern sucht.
Dieses Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Aufbau Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Han Kang, Menschenwerk. Aufbau Verlag Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 220 Seiten ISBN: 9783351036836 Erschienen: 15.09.2017
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