Eindringlich, hart und ehrlich geht der Autor der Frage nach: Warum tun Menschen, was sie tun?
Ein Kindersoldat sucht Asyl in Deutschland. Ein Mann trauert um seine Tochter. Eine Mutter schüttelt ihr Kind zu Tode. Ein Polizist lässt einen Mörder gewähren. Ein Krankenpfleger vergeht sich an seinen Patienten … All diese kaputten Leben sind durch ein Geflecht aus Angst und Gewalt miteinander verbunden. Inspiriert und eskortiert von einem imaginären Soundtrack aus Rap, Literatur und Independent-Musik zeichnet RAW eine gesellschaftliche Momentaufnahme. Böse, verstörend und anstößig. Und so ehrlich, dass es weh tut.
Dieses Buch habe ich bereits vor einer kleinen Ewigkeit verschlungen, doch mussten die krassen (ja, das Wort passt hier gut) Töne und tief greifenden Storys erst mal ein wenig absacken. Denn Hank Zerbolesch legt mit „RAW“ nicht einfach nur einen x-beliebigen Erzählband vor, sondern einen selbsternannten „Antiroman“, der seine Spuren tief im Hirn hinterlässt. Dies mag vermutlich auch daran liegen, dass der Autor nicht wenig von der (größtenteils deutschen) Hip-Hop-Szene beeinflusst wurde und jeder Story ein einzelner Track vorangestellt ist. Diesen soll der geneigte Leser nun auch im Idealfall hören, am besten direkt vor der Lektüre der einzelnen Geschichte. So kann man vielleicht nicht peu à peu unterwegs lesen, weil vielleicht nicht immer das passende Ohrenfutter da ist, aber wenn man sich zuhause darauf einstellt, kann das richtig gut werden! Zugegeben, ich bin kein großer Fan von Hip-Hop (besonders dem deutschen Hip-Hop kann ich mit wenigen Ausnahmen nicht viel abgewinnen), trotzdem wollte ich mich auf dieses literarische Experiment einlassen. Und ich kann doch behaupten, dass sich das gelohnt hat! Aufgrund der auditorischen Komponente ist die Verbindung zum Gelesenen doch viel stärker als bei „Solo-Lektüren“.
Bewegung zieht ins Fleisch. Hat Verstärkung mitgebracht. Ein Summen, das die Knochen zum Vibrieren bringt und in den Hirnstamm strahlt. Der Wahnsinn streut Metastasen.
Zu den Geschichten: Der Klappentext beschreibt es eigentlich bereits ganz gut, in „RAW“ findet sich ein bunter Strauß an verrückten, derben, emotionalen und vielleicht auch etwas wahnsinnigen Storys. Meine Lieblingsgeschichte von allen ist „Asche zu Asche, Staub zu Staub“. Es geht um ein älteres Ehepaar, das es nicht mehr schafft, Arbeiten im Garten zu erledigen, obwohl der Mann doch früher sogar Gärtner war. Sie holen sich einen jungen Mann zur Unterstützung bei der Gartenarbeit. Der ältere Mann lernt ihn ein, nimmt sich Zeit für ihn, doch dann stirbt seine Frau. Diese Kurzgeschichte ist nur wenige Seiten lang und schafft es auf diesem kleinen Raum allerdings, dass der Leser mit den Charakteren mitfühlt. Die anderen Erzählungen bewegen sich gerne in düsteren Milieus voller Gewalt, Prostitution, Alkoholismus und Verbitterung, wo Drogen und eine sehr derbe Ausdruckssprache an der Tagesordnung sind. Hank Zerbolesch scheut sich nicht, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen und schafft es, dass seine Storys trotz ihrer Brutalität und expliziten Sprache nicht billig rüberkommen. Seine besondere Erzählsprache nimmt den Leser mit auf eine Reise durch einen Querschnitt an Charakteren, durch verschiedene Szenen, Branchen und Gebiete, die man so eher nicht kennenlernt. Da ist die Geschichte von tätlichen Angriffen, die in einer anderen Erzählung aus einer anderen Perspektive wieder aufgegriffen wird, da sind Charaktere, deren Verwandte oder Bekannte man plötzlich aus der Ego-Perspektive begleiten darf. Diese Elemente finde ich sehr gelungen. Aber auch der Erzählstil hat mir sehr gut gefallen: Mal zerschneiden kurze Sätze die Stille wie Pistolenschüsse, mal sorgt eine außergewöhnliche Wortakrobatik für Momente, in denen man das Gelesene einfach nochmal lesen muss. Hank Zerbolesch entführt den Leser mit „RAW“ zu einer Achterbahn der Gefühle, ein wahres Wechselspiel zwischen Empathie und Hass. Er versucht mit seinen Erzählungen, das Verhalten der Menschen aufzudröseln, versucht, zu erkennen, warum Menschen tun, was sie tun. Äußerst spannend und nicht nur für Fans derber Literatur zu empfehlen.
Warum ich Menschen töte? Naja, Sagen wir so. Jeder braucht eine Perspektive.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Autor als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Hank Zerbolesch, RAW | Periplaneta Verlag | Taschenbuch, 160 Seiten | ISBN: 978-3959-961158 | Erschienen am 22.10.18 | zur Autorenseite