Nichts für schwache Nerven: Keglevic rüttelt in diesem Buch an der Fassade einer ausgegrenzten Familie und fördert Unaussprechliches zutage.
Ein enges Tal irgendwo in den Bergen: Die 15-jährige Agnes, die so gern ein »Autoschrauber« hätte werden wollen, muss erfahren, wie brutal das Leben sein kann. Wenn die eigene Familie verachtet wird. Wenn jeder jeden kennt und mit jedem eine Geschichte hat. Da stehen dem Missbrauch die Türen weit offen, da wird vertuscht und betrogen, denunziert und getötet, ohne dass der Himmel ein Einsehen hätte. Als der Vater totgeschlagen und die Mutter elendig verreckt ist, hat Agnes nur noch einen Gedanken: Sie muss Bruder und Schwester vor dem Heim retten, in dem sie einst gelitten hat.
Peter Keglevics „Wolfsegg“ liegt schon sehr, sehr lange auf meinem SUB – es ist eigentlich peinlich, wie lange dieses Highlight da gelegen und Staub angesetzt hat. Dabei sind Bücher, die in den Bergen spielen, doch eine meiner Leidenschaften, z. B. „Acht Berge“ von Paolo Cognetti oder auch „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler – nur um zwei zu nennen. Und auch Literatur, in der es etwas härter zugeht (wenn man es so sagen möchte) und der Leser nicht gerschont wird, mag ich doch eigentlich recht gerne. Deshalb kann ich mir eigentlich nicht erklären, dass „Wolfsegg“ monatelang Staub angesetzt hat, nachdem ich die ersten 20 Seiten gelesen habe. Dass ich jetzt doch noch dazu gegriffen habe, hat sich als echter Glücksgriff erwiesen, denn dieses Buch ist mir so ans Herz und an die Nieren gegangen wie lange keines mehr. Es geht um eine Familie, die im Dorf gerne als asozial bezeichnet wird – der Vater ist arbeitslos, die Mutter depressiv zu Hause, die Schwester und der Bruder gehen noch zur Schule (sorgen aber für jede Menge Ärger), und Agnes, gerade erst 15 Jahre alt, wird zu einer Ausbildung in der sogenannten Raika, eine Art Baumarkt, verpflichtet. Dass dort der Mann arbeitet, den ihre Mutter vor so vielen Jahren abgewiesen hat und der nun nach Rache sinnt, damit hätte niemand gerechnet.
Im Wolfsegg, unerreichbar und aus der Welt sind wir jetzt. Unverwundbar. Niemand packt uns mehr und drückt uns nieder. Keiner zwingt uns mehr seinen Willen auf. […] Wir sind jetzt frei wie die Gämsen, die über den Grat laufen.
Doch direkt an ihrem ersten Arbeitstag erfährt Agnes am eigenen Leibe, was es heißt, schikaniert, bedroht und gedemütigt zu werden. Der Scholtysek, so heißt er, wird zur alltäglichen Bedrohung und Agnes empfindet die Arbeit mehr und mehr als Strafe. Parallel zu ihrem Elend auf der Arbeit erinnert Agnes sich zunehmend an Dinge aus ihrer Kindheit – aus der Zeit, als sie eine Weile im „Maria hilf!“-Kinderheim verbracht hat aufgrund der postnatalen Depression ihrer Mutter nach der Geburt ihrer Schwester. An diese Dinge konnte Agnes sich bisher jedoch nicht erinnern, da ihr damals 9-jähriger Körper gezwungen war, Verdrängung zu lernen. Es sind unangenehme Erinnerungen, sehr unangenehme, die Agnes wieder hoch kommen. Von Kindern, die bedroht, und verprügelt werden, von Männern, die in das Heim kommen und unaussprechliche Dinge mit den Marienkindern tun. Von ihr und solchen Männern.
Der Vater immer mal wieder wochenlang nicht zu Hause und auf Jobsuche, die Mutter krank im Bett, steht des Öfteren auch das Jugendamt bei der Familie auf die Matte. Agnes, die sich um den Haushalt, die Mutter und ihre Geschwister kümmert, versucht ihr bestes, die Eindringlinge zu vertreiben, den Schein zu wahren. Auf keinen Fall dürfen die beiden Kleinen ins Kinderheim geschickt werden. Als die Kinder auf sich allein gestellt sind, greift Agnes dafür auch zu härteren Mitteln, um dies zu gewährleisten. Hier kommt Wolfsegg ins Spiel, eine verlassene Hütte, versteckt mitten im Wald auf einem namenlosen Berg, die der Vater Agnes noch gezeigt hat, bevor das Familienunglück seinen Lauf nahm. An dieser Stelle beginnt der Roman erst richtig. Der Alltag in der Hütte und die Hetzjagd nach den Kindern unten im Dorf macht rund die Hälfte des Buchs, aber den Großteil der Handlung aus. Mehr möchte ich hier jedoch nicht verraten!
„Wolfsegg“ ist – wie ihr ohne Zweifel bereits erkannt habt – kein Gute-Laune-Roman. Er ist aber auch kein Thriller, sondern eher ein Familiendrama, das langsam, aber sicher gegen die Wand fährt. Keglevic, der bis auf einen weiteren Roman eher als Regisseur bekannt ist, findet für alles, was in diesem Buch passiert, die richtigen Worte. Die Sprache ist hart und schnörkellos, aber genau danach verlangt eine solche Geschichte. Rau und ohne Rücksicht auf Verluste peitscht der Autor sowohl seine Figuren als auch den Leser von einem Elend ins Nächste – ohne dabei misery porn oder dergleichen zu kreieren. Wir lernen, was familiärer Zusammenhalt bedeutet, wie Geschwisterliebe verbindet und was aus uns werden kann, wenn wir die, die wir lieben, um jeden Preis beschützen wollen.
Wir sind jetzt die Wölfe, und wenn wir nicht übermütig werden, bleiben wir unentdeckt.
Fazit: Peter Keglevics Roman „Wolfsegg“ ist nichts für schwache Nerven. Wer vielleicht das letztes Jahr erschienene „Mein Ein und Alles“ von Gabriel Tallent gelesen hat, kann sich vielleicht vorstellen, wie hart ein Roman sein kann. Und doch ist Tallents Roman Nichts im Vergleich zu „Wolfsegg“, denn hier lauert unter der Oberfläche einiges, das vielleicht besser verborgen geblieben wäre – für den Leser, wohlgemerkt nicht für die Charaktere. Wer Gänsehaut und einen flauen Magen beim Lesen aushält und sich gerne auf neues literarisches Terrain wagen möchte, der sollte seinen Fuß lieber erst einmal ins kalte Wasser stecken und probieren, ob er sich mit der Geschichte wohlfühlt und besser früher als später aussteigen. Für mich war dieses Buch jedoch ein Highlight!
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Penguin Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Peter Keglevic / Wolfsegg / Penguin Verlag / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 320 Seiten / ISBN: 978-3-328-60098-5 / Erschienen am 19.08.19 / zur Verlagsseite
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