Das Portrait eines Lebens – Eine Buchperle im besonders schönen Gewand.
Was wird aus einem Menschen, dem von klein auf eingeflüstert wird, er sei unheilbar krank? Als Kind schlief Wolf tagsüber, nachts war er wach. Die Wohnung durfte er nur mit einem Motorradhelm verlassen – er habe die Mondscheinkrankheit, behauptete die Mutter. Heute, als Erwachsener, lebt Wolf zurückgezogen in seiner Wohnung, die Wände verkleidet mit Puzzles. Ein Mann taucht auf, der sagt, er sei sein Bruder. Freddy wirkt rätselhaft auf Wolf, ein Mensch ohne moralischen Kompass, trotzdem nimmt Wolf sich seiner an. Und wird erneut hineingezogen in einen bedrohlichen Kampf um die Wahrheit seines eigenen Lebens.
Dieses Buch habe ich durch Zufall auf Instagram entdeckt und nicht nur die Aufmachung (kein Schutzumschlag, juhu!), sondern auch der Klappentext haben mich sofort begeistert. Klar, dass ich R. R. Suls „Das Erbe“ als schnellstmöglichst lesen musste! Es geht um Wolf, der als Kind aufgrund einer Fehldiagnose jahrelang nur nachts rausgehen darf, da seine Mutter mit dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom natürlich keine zweite ärztliche Meinung einholt. Einige Zeit später darf Wolf zwar tagsüber raus, aber nur mit einem dicken Helm, jedes Stück Haut gut geschützt. Erst, als der neue Partner der Mutter ihn heimlich zum Arzt bringt, fliegt die Mutter auf und Wolf darf seinen Helm endlich zuhause lassen. Doch damit das Unglück erst, denn mehr und mehr erkennt er, wie krank seine Mutter wirklich ist. Und wie cholerisch sein Stiefvater. Als er später alleine wohnt, schottet er sich erneut komplett ab, nimmt nur Gelegenheitsjobs wahr und das auch vorzugsweise nachts. Bis er seiner ersten besten Freundin aus Kindertagen begegnet – nach vielen Jahren. Und wenig später auch seinem Bruder, der völlig unerwartet vor seiner Tür steht und bei ihm einzieht. Und wieder wird Wolfs Leben auf den Kopf gestellt – zum Guten oder Schlechten, das offenbart sich erst später.
Ich war sieben, als ich einen Helm bekam, der mich vor der Sonne schützte. Davor lebte ich nur in der Nacht. […] Der Strahl meiner Taschenlampe meine einzige Lichtquelle, wenn der Mond nicht schien. Der Ruf des Waldkauzes ein vertrautes Geräusch. Vertrauter als das Lachen anderer Kinder.
Was jetzt vielleicht nicht super spannend klingen mag, zumindest nicht in meiner Zusammenfassung, hat mich doch irgendwie richtiggehend eingesaugt. Denn Wolfs Geschichte ist ungewöhnlich und lässt sich auch nur schwer in Worte fassen. „Das Erbe“ beschäftigt sich dabei nicht nur mit Wolfs jungen Jahren, sondern umfasst seine gesamte Lebensspanne, was für 216 Seiten knapp bemessen scheint, doch es gibt ein paar Zeitsprünge. Der Autor (der anonym bleiben möchte) hat meiner Meinung nach ein großartiges Werk geschaffen und mit Wolf einen Charakter, der teilweise so unfassbar unsympathisch, aber dann doch so liebenswert ist. Seinen Bruder Freddy habe ich allerdings bis zur letzten Seite nicht durchschaut und nach der Lektüre habe ich noch einige Fragezeichen – die möglicherweise gar nicht beantwortet werden sollen.
In „Das Erbe“ erfahren wir alles aus der Sicht Wolfs, alle Grausamkeiten seines Vaters, alle Schieflagen in seiner Beziehung, wir nehmen an all seinen Gedanken teil. Die Geschichte, das Buch an sich, widmet Wolf seinem Enkel Karlchen, den wir als Leser zumindest noch kurz kennen lernen. Was bis zum Ende des Buches alles geschieht, ist wirklich genug Elend für ein Leben und wir können nur vermuten, ob das Ende des Buches auch mit dem Ende von Wolfs Leben gleichzusetzen ist.
Fazit: Ein Wahnsinnsbuch, das ich zu meinen Jahreshighlights zähle! Wolf Geschichte ist mir wirklich sehr ans Herz gegangen, auch wenn ich ihn stellenweise einfach nur schütteln wollte. Dadurch, dass wir sein Leben von Anfang an begleiten, können wir uns ein umfassendes Bild über Wolf machen und vielleicht auch ein wenig seine Entscheidungen bzw. sein Verhalten nachvollziehen, da wir das Gesamtbild betrachten können. Ich hätte mir noch ein paar Seiten mehr mit und von Wolf gewünscht, aber da wir ihn ungefähr 60 Jahre lang begleiten dürfen, ist seine Geschichte hier vielleicht auch einfach zu Ende.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom dtv Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
R. R. Sul / Das Erbe / dtv Verlag / Gebundenes Buch, 216 Seiten / Erschienen am 16.09.19 / ISBN: 978-3-423-28199-7 / zur Verlagsseite
Liebe Tina,
danke für deine Rezension! Ich hatte das Buch vorher echt nicht auf dem Schirm, fand aber schon den Klappentext interessant und nach deinem Lob ist das erst recht auf meiner Leseliste gelandet. Ich glaube aber, dass man dafür in der richtigen Stimmung sein muss. Ich bin auf alle Fälle gespannt. Danke und viele Grüße 🙂
Yvonne