Ein erschütterndes und hoffnungsvolles Debüt über Geschwisterliebe, Depression und ungleiche Freundschaften.
Paula braucht nicht viel zum Leben: ihre Wohnung, ein bisschen Geld für Essen und ihren kleinen Bruder Tim, den sie mehr liebt als alles auf der Welt. Doch dann geschieht ein schrecklicher Unfall, der sie in eine tiefe Depression stürzt. Erst die Begegnung mit Helmut, einem schrulligen alten Herrn, erweckt wieder Lebenswillen in ihr. Und schließlich begibt Paula sich zusammen mit Helmut auf eine abenteuerliche Reise, die sie beide zu sich selbst zurückbringt – auf die eine oder andere Weise.
Dieses Buch hat sofort „Mama!“ gerufen, als ich es gesehen und den Klappentext gelesen habe. Bei der Lektüre war mir dann schnell klar, dass ich ein richtiges Highlight in den Händen halte. Und auch, nachdem ich Jasmin Schreibers „Marianengraben“ beendet hatte, blieb dieser Eindruck bestehen. Dabei bin ich ja eigentlich kein Fan von Road Trips und vermeintlich supergegensätzlichen Menschen, die dann doch irgendwie Freunde werden. Doch Paula und Helmut sind mir sofort ans Herz gewachsen. Der feine Humor und der flüssige Schreibstil taten dann ihr Übriges, und zurück blieb eine sehr zufriedene Tina. Aber nun zur Geschichte: Paulas Bruder Tim liebt das Meer. So sehr, dass er seine große Schwester Paula damit ansteckt und sie Biologie studiert (mit dem Fokus auf Meeresbiologie). Doch als Tim bei einem Unfall ums Leben kommt, ist da nur noch ein klaffendes Loch, eine gähnende Leere in Paula. Sie fällt in eine starke Depression und vergräbt sich in ihrer Wohnung. Als sie sich dann doch eines Tages heraustraut und zu Tims Grab fährt (damit sie niemand sieht, tut sie dies nachts), trifft sie auf Helmut – der gerade die Urne seiner Frau ausgräbt. Was so kurios beginnt, wird noch kurioser, denn Helmut hat mit seiner verstorbenen Frau einen Trip in die Berge geplant – und Paula beschließt kurzerhand, mitzukommen. Doch Helmut entpuppt sich als sehr grummeliger Zeitgenosse a là Ove, was die Reise für alle Parteien – inklusive Helmuts Hündin Judy – nicht immer einfach gestaltet.
Man ist wütend, weil man denkt: Jetzt wartet doch mal, wisst ihr nicht, was passiert ist? Die Welt geht unter! Und die Realität ist eben: Nö. Man ist nicht wichtiger im Lauf der Dinge als die anderen. Die Welt geht auch nicht unter. Der Alltag geht halt so voran und schleppt einen auch irgendwie mit.
Dass es sich bei Jasmin Schreibers Roman um ein Debüt handelt, spürt man zu keiner Zeit – „Marianengraben“ ist von der ersten bis zur letzten Seite ein perfekt austariertes Buch. Obwohl unsere Protagonistin Paula beispielsweise seit dem Tod ihres Bruders an Depressionen leidet, nimmt das Buch keinen zu negativen Einschlag an, sondern will einen Ausblick geben in das, was im Leben noch auf uns (und Paula) wartet. Und kommt es doch mal zu sehr emotionalen und auch traurigen Passagen, kann man sicher sein, dass der nächste Kalauer von Helmut nicht weit entfernt ist. Und dabei meine ich nicht, dass die beiden Charaktere ihre Trauer mit Witzchen überspielen, ganz im Gegenteil – die beiden geben einander den Halt, den sie so dringend brauchen, und versuchen, mit ein paar Schmunzeleien und Schlagabtäuschen die Stimmung aufzulockern. Denn der Tod einer geliebten Person ist noch nicht das Ende der Welt, selbst wenn es sich so anfühlen mag.
Besonders Paula leidet sehr, denn sie macht sich für den Tod ihres Bruders verantwortlich, weil sie in dem Urlaub, wo alles geschah, nicht mit dabei war. Sie zerfleischt sich monatelang, unterbricht ihr Studium und schließt sich in ihrer Wohnung ein, die immer mehr verkommt. Helmut ist mit seiner Trauer das krasse Gegenteil, denn er sieht die Dinge positiv, erinnert sich an die schönen gemeinsamen Zeiten mit dem Gefühl der Dankbarkeit und akzeptiert den Tod als unvermeidlichen Teil des Lebens, der uns früher oder später alle einholt.
Man kann das Leben nicht aufhalten, wissen Sie. Und den Tod kann man auch nicht kontrollieren, weil er nun einmal zu diesem bekloppten Ritt namens Leben gehört.
Jasmin Schreiber erzählt all dies mit einer wunderbaren Leichtigkeit, einer großen Portion Humor und einem riesigen Hoffnungsschimmer am Horizont. Die beiden Charaktere sind überaus liebevoll und detailliert gezeichnet, sie wirken niemals flach oder gar stereotyp. Die Geschichte an sich mag vielleicht nicht das Rad neu erfinden, aber sie macht Vieles richtig und hat mir eine unglaublich tolle Lesezeit beschert. Am liebsten hätte ich mich weder von Helmut noch von Paula verabschiedet. Und dann gibt es ja noch Judy, die mit einer Karotte im Mund nur rückwärts durch Türen laufen kann, und das Huhn Lutz, das Paula mitten auf der Straße aufsammelt und das sie und Helmut fortan bei ihrem Road Trip in die Berge begleitet.
Fazit: Ein tolles Buch und eines meiner frühen Jahreshighlights! Wer von einer nicht bedrückenden Perspektive auf das Thema Tod und Trauerarbeit werfen möchte, sollte unbedingt in „Marianengraben“ reinschauen. Da das Buch gerade in aller Munde ist, wird es hoffentlich auch die Aufmerksamkeit erfahren, die es verdient hat!
Weitere Besprechungen:
Poesierausch • Gassenhauer • Buchstabenträumerei • Literaturen
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom eichborn Verlag als Rezensionsexemplar im Rahmen einer Bloggerjury Leserunde zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Jasmin Schreiber / Marianengraben / eichborn Verlag / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 254 Seiten / ISBN: 978-3-8479-0042-9 / Erschienen am: 28.02.20 / zur Verlagsseite