Liebevolle Idee, interessantes Konzept, schöne Umsetzung — mit dem Wermutstropfen einer zu schnellen Charakterentwicklung.
Edith ist Mitte vierzig und wohnt allein in einer kleinen Wohnung in Köln. Ihr Leben verläuft in sehr engen Bahnen. Tagsüber arbeitet sie bei einer Versicherung, abends schaut sie Fernsehen. Außer zu ihrer Mutter, mit der sie sich pflichtschuldig einmal im Monat trifft, um sich von ihr kritisieren zu lassen, hat sie kaum Kontakte. Das ändert sich, als sie mit einer Zehnjährigen im Aufzug stecken bleibt. Die Kleine beginnt ein raffiniertes Spiel mit ihr, der Beginn einer sehr ungewöhnlichen Freundschaft. Jeden Tag muss Edith eine neue Aufgabe erledigen, und ihr Leben verändert sich dabei mehr, als sie es je für möglich gehalten hätte. (zur Verlagsseite)
„Die Phantasie der Schildkröte“ von Judith Pinnow ist wieder mal ein Buch, das mich vor allem aufgrund seines Covers angelockt hat. Positive Rezensionen und ein fluffig anmutender Plot haben mich dann komplett abgeholt. Pinnow erzählt hier die Geschichte der Eigenbrötlerin Edith, die soziophob ist und vielleicht auch eine kleine Zwangsstörung hat. Eines Tages bleibt sie mit Schneewittchen im Aufzug stecken. Schneewittchen ist ein junges Mädchen, das Edith auffordert, eine Kaugummiblase zu machen, damit der Aufzug weiterfährt — was Edith natürlich in ihrem Wesen widerspricht. Die Kleine verfolgt sie auch nach diesem Vorfall weiterhin und stellt ihr immer neue Aufgaben, die Edith gehörig gegen den Strich gehen. So soll sie doch einen Fremden in der Bahn ansprechen oder etwas Gutes für die alte, kauzige Hexe aus dem Erdgeschoss tun. Nachdem sich Edith zunächst ziert, merkt sie, dass Schneewittchens Aufgaben ihren doch sehr positiven Folgen ihr doch sehr gut tun. Durch heldenhafte Schildkröten-Rettungen, verteilte Küchlein oder die nach und nach erblühende Selbstakzeptanz schafft Edith es, aus ihrem festgefahrenen Alltagstrott auszubrechen und sich endlich für das Leben zu öffnen.
Ich gebe auf. Dieses Kind werde ich nicht los. Sie ist mir zugelaufen wie ein kleiner Hund. Sie bringt mich dazu, völlig absurde Dinge zu tun und wider alle Vernunft fühlt sich das richtig an.
Judith Pinnow hatte hier eine sehr süße Idee, und alle Charaktere im Buch waren liebevoll und detailliert gezeichnet. Die Erzählsprache war locker-flockig und schnell zu lesen, sodass man ruck-zuck das Buch ausgelesen hatte. Die Grundidee der Handlung, dass plötzlich ein kleines Mädchen das Leben einer erwachsenen Frau dirigiert, hat mir toll gefallen, jedoch war ich etwas weniger begeistert von der relativ schnellen Wandlung Ediths. Viel zu schnell war sie nicht mehr sie selbst und viel zu schnell hat sie ihre Gewohnheiten aufgegeben. Das war so leider nicht glaubwürdig, da jemand mit so strengen Regeln in seinem Leben sich nicht einfach überzeugen lässt, verrückte Dinge zu tun. Dieser Aspekt hat mich etwas gestört. Der Part mit Ediths Flaschenpost hat mich auch nicht komplett abgeholt, aber wenn man „Die Phantasie der Schildkröte“ als reines Wohlfühl-Buch ansieht, funktioniert es doch ganz wunderbar. Die Handlung plätscherte auf 410 Seiten freudig vor sich hin, es gibt keine größeren Aufreger oder Dinge, die mich arg gestört hätten, jedoch finden hier wohl eher Freunde der seichten Unterhaltung ihr nächstes Buchschätzchen.
Ich muss sagen, dass mich das Buch von der Protagonistin her doch ein wenig an „Ich, Eleanor Oliphant“ erinnert hat, deren Protagonistin auch soziophob war und ebenso nach strengen selbst auferlegten Regeln lebt. Auch Eleanor blüht im Verlauf des Buches auf, jedoch nicht, ohne ihre Schrulligkeit zu verlieren. Das ist hier anders. Edith verliert sich nach und nach immer mehr, vergisst ihre eigens aufgestellten „Lebens-Regeln“ und achtet nicht mehr penibel auf jedes Detail ihres Tagesablaufs. Das Ende bzw. die Auflösung hat mich allerdings mit einem „Hä?“ zurück gelassen, aber das Finale muss man selbst gelesen haben, um es beurteilen zu dürfen. Mein Fall war es nicht, ich hatte aber während des Lesens bereits eine Vermutung, die prompt bestätigt wurde.
Jetzt bin ich kein Beobachter mehr, sondern mittendrin im Leben, und ich weiß einfach nicht, wie »Flut« geht.
Fazit: Die Autorin schafft es, den Leser mit ihrer luftig-leichten Geschichte perfekt abzuholen. Ab Seite 1 war ich im Bann von Pinnows Erzählsprache. Das große Manko der „Phantasie der Schildkröte“ war jedoch Ediths Charakterentwicklung. Dass alles so wahnsinnig schnell ging, fand ich mitunter doch sehr schade, da es dem Buch die Glaubwürdigkeit nimmt. Edith und eigentlich auch alle anderen Charaktere werden jedoch sehr sympathisch dargestellt und man möchte meinen, dass man in Köln doch glat das Cafe Mama Molli vorfinden könnte. Alles in allem ein schöner Feel-Good-Roman mit kleinen und größeren Störfaktoren, aber mit einem Plot, der zum Verweilen einlädt.
Dieses Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom S. Fischer Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Judith Pinnow, Die Phantasie der Schildkröte. KRÜGER Verlag im S. Fischer Verlag Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 411 Seiten ISBN: 9783810530356 Erschienen: 24.08.2017