Schrullige Protagonistin mit sozialer Inkompetenz und eine Story mit überraschend viel Tiefgang
Titel: Ich, Eleanor Oliphant
Autor: Gail Honeyman
Verlag: Bastei Lübbe
Klappentext: Wie Eleanor Oliphant die Liebe suchte und sich selbst dabei fand — Eleanor Oliphant ist anders als andere Menschen. Eine Pizza bestellen, mit Freunden einen schönen Tag verbringen, einfach so in den Pub gehen? Für Eleanor undenkbar! Und das macht ihr Leben auf Dauer unerträglich einsam. Erst als sie sich verliebt, wagt sie sich zaghaft aus ihrem Schneckenhaus – und lernt dabei nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst noch einmal neu kennen. (zur Verlagsseite)
Es gab Zeiten, in denen ich geglaubt hatte, vor Einsamkeit sterben zu müssen. Einzugehen wie eine vernachlässigte Pflanze. Manchmal sagen Leute, sie würden sterben vor Langweile oder für eine Tasse Tee, einen Kaffee, oder was weiß ich. Leeres Geschwätz. An Einsamkeit zu sterben ist hingegen keine Übertreibung.
Zwischen urkomisch und tieftraurig schwankt „Ich, Eleanor Oliphant“ von Gail Honeyman. Man wird in die Welt der titelgebenden Protagonistin Eleanor Oliphant geworfen, die ein eintöniges, monotones Leben mit einem Bürojob und ohne jede Zukunftsträume führt. Mit sozialen Kontakten hat Eleanoor es nicht so, sie ist lieber für sich. Nach und nach kommt dann noch ein dunkles Geheimnis an die Oberfläche, was vielleicht dafür verantwortlich ist, weshalb sie so ist, wie sie ist. Während ihre Mutter jeden Mittwoch pünktlich anruft, um mit ihrer Tochter zu plaudern, was nicht annähernd so nett ist, wie es klingt, kommt Eleanors Leben durch das Erscheinen eines neuen Kollegen und die Sichtung ihres Traummannes, einem Musiker, langsam ins Rollen. Sie beginnt, sich mit sozialen Konventionen auseinanderzusetzen bzw. diese zu begreifen oder zumindest anzuerkennen und kommt nach und nach aus ihrer Schale heraus. Sie beginnt, sich mit anderen Menschen außer sich selbst zu beschäftigen, versucht, ihren Traumkerl für sich zu gewinnen (auf andere Art, als man denken mag) und geht sogar auf eine Party, was für sie noch vor einer Weile undenkbar erschien. Doch wer denkt, dass „Ich, Eleanor Oliphant“ nur seichtes „hässliches Entlein – schöner Schwan“-Geplätscher ist, hat sich getäuscht: Eleanors Vergangenheit scheint sie immer wieder einzuholen, auch wenn diese sich dem Leser erst sehr viel später eröffnet. Regelmäßige Wodka-Gelage, um die Gedanken zu betäuben, gehören zu Eleanors Wochenplan. Bis sie aber durch Drängen von Raymond die Hilfe eines Psychologen in Anspruch nimmt, dauert es, und der Weg der Selbsterkenntnis ist lang und schwierig.
Mein Leben, so die nüchterne Erkenntnis, war von Grund auf verkorkst. Irgendetwas war gründlich schiefgegangen. Ich sollte so nicht leben. Niemand sollte so leben.
Ich muss sagen, nach dem Lesen des Klappentextes habe ich nicht viel erwartet. Ich dachte an eine Story in Richtung „Das Rosie-Projekt“ oder „How Opal Mehta Got Kissed, Got Wild, and Got a Life“, kurz: sozial inkompetente Person findet die Liebe und entgegen ihrem geplanten Tagesablauf lässt sie sich darauf ein. Doch „Ich, Eleanor Oliphant“ ist viel mehr als das. Anfangs ist man vielleicht noch der Meinung, dass Eleanor vielleicht unter dem Asperger-Syndrom leidet, weil sie soziale Konzepte nicht begreift und auch mit anderen Menschen nicht viel anfangen kann, dann aber wird einem klar, dass ihre Kindheit an allem Schuld trägt. Eine möglicherweise kriminelle Mutter, ein Feuer, Pflegefamilie nach Pflegefamilie, das sind nicht die besten Voraussetzungen für eine gesunde Kindheit. Und doch schafft es Eleanor im Laufe des Buches, sich ihren Problemen zu stellen, sich für andere Menschen zu öffnen, nicht nur nach innen, sondern auch nach außen: sie lässt Menschen an sich heran, macht sich über ihr Wohlergehen Sorgen, versucht Konventionen zu verstehen. Doch nicht alle Tage von Eleanor sind gute Tage: eingeteilt in „Gute Tage“ und „Schlechte Tage“, erwarten uns im Buch nicht nur die positiven Veränderungen an Eleanor, sondern auch die dunkle Vergangenheit, die sie am Ende doch noch einholt.
So sehr war ich in meine Gedanken vertieft, dass ich vor Schreck zusammenfuhr, als sich eine Hand auf meine Schulter legte. […] Ich spürte genau, wo seine Hand gelegen hatte, ganz kurz nur, aber sie hinterließ einen warmen Abdruck, wie einen fühlbaren Umriss. Plötzlich wurde mir bewusst, dass eine menschliche Hand genau das richtige Gewicht, die richtige Temperatur und die richtige Größe hatte, um einen anderen Menschen zu berühren.
Fazit: Mit einer leichten, nüchternen Sprache erzählt Gail Honeyman die Geschichte von Eleanor, einer ziemlich schrulligen jungen Frau, die es (nicht immer gewollt) schafft, aus ihrer Einsamkeit auszubrechen. „Laugh out loud funny“ steht „zum Weinen traurig“ gegenüber, hält sich aber das gesamte Buch über die Waage. Ausgefleischte Charaktere machen dieses Buch zu etwas Besonderem, etwas, das sich aus der Masse abheben kann, und das noch lange nach dem Lesen im Kopf bleibt. „Ich, Eleanor Oliphant“ ist eine klare Leseempfehlung!
Dieses Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise von NetGalley zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Gail Honeyman, "Ich, Eleanor Oliphant", Bastei Lübbe. ISBN: 9783431039788.
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