»Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden« – dieses Buch ist eine moderne Version von Nabokovs Skandalroman, jedoch aus der weiblichen Perspektive.
Vanessa ist gerade fünfzehn, als sie das erste Mal mit ihrem Englisch-Lehrer schläft. Jacob Strane ist der einzige Mensch, der sie wirklich versteht. Und Vanessa ist sich sicher: Es ist Liebe. Alles geschieht mit ihrem Einverständnis. Fast zwanzig Jahre später wird Strane von einer anderen ehemaligen Schülerin wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt. Taylor kontaktiert Vanessa und bittet sie um Unterstützung. Das zwingt Vanessa zu einer erbarmungslosen Entscheidung: Stillschweigen bewahren oder ihrer Beziehung zu Strane auf den Grund gehen. Doch kann es ihr wirklich gelingen, ihre eigene Geschichte umzudeuten – war auch sie nur Stranes Opfer?
Über dieses Buch hat gefühlt meine gesamte Insta-Bubble gesprochen – und nach der Lektüre kann ich auch absolut verstehen, wieso. In Kate Elisabeth Russells „Meine dunkle Vanessa“ dreht sich alles um die klassische Lolita-Geschichte: Ein junges Mädchen schläft mit ihrem 27 Jahre älteren Lehrer. Wer einen schwachen Magen hat, dem rate ich ausdrücklich von dieser Lektüre ab. Es wird detailreich und explizit (das Buch, nicht meine Besprechung – wobei, vielleicht werde ich einige Szenen erwähnen, bei denen einige Leser sauer aufstoßen werden). Diese Geschichte, die bereits viele Male erzählt wurde, ist in der heutigen Zeit aktueller denn je – seit der #metoo-Bewegung gehen Frauen* nämlich viel offener mit diesem Thema um. So bekommt auch Vanessa, unsere Protagonistin, den Wirbel um Missbrauchs-Anschuldigungen zu ihrem ehemaligen Lehrer mit. Und anstatt, dass sie mit dem Thema für sich bleiben kann, wird sie von einem der Missbrauchsopfer kontaktiert und gebeten, Stellung zu ihrem Verhältnis mit Jacob Strane (so sein Name) zu geben. Doch Vanessa weigert sich, ist aber nun gezwungen, dieses Thema gedanklich erneut aufzurollen.
Nach all den Jahren hat sie zwar immer noch gelegentlich Kontakt zu und Sex mit Strane, doch selbst jetzt, mit Anfang 30, scheint sie die Geschehnisse ihrer Vergangenheit noch nicht verarbeitet zu haben, da sie diese ganz offensichtlich verdrängt bzw. sie völlig verdreht. Das sei kein Missbrauch gewesen, redet sie sich ein, alles wäre mit ihrer Einwilligung geschehen. Der zweite Erzählstrang, der Vanessa mit 15 zeigt, wie sie die seltsamen Gefühle, die ihr Lehrer bei ihr auslöst, erlebt. Wir erfahren diese Einblicke also nicht über Erzählungen Vanessas aus der Jetzt-Zeit, in der ihre Erinnerungen getrübt sind, sondern direkt aus erster Hand. Und hier sehen wir relativ schnell, dass Vanessa ihre Erlebnisse von damals stark romantisiert. Gegenüber ihrer Therapeutin spricht sie dies sogar aus: „Für mich ist es ganz, ganz wichtig, dass es eine Liebesgeschichte ist“, sagt sie. „Denn wenn es keine Liebesgeschichte ist, was ist es denn dann?“
Ich war die Sorte Mädchen, die es eigentlich nicht geben sollte: ein Mädchen, das sich quasi freiwillig einem Pädophilen ausliefert. Aber nein, dieses Wort passt nicht zu ihm. Es ist eine Ausflucht, eine Lüge. Ganz so, wie es falsch ist, mich nur als Opfer zu bezeichnen und sonst nichts. So leicht war er nie einzuordnen, ebenso wenig wie ich.
Schon während ich lediglich den Inhalt zusammenfasse, bildet sich auf meinen Armen eine Gänsehaut. Denn dieses Buch nimmt kein Blatt vor den Mund, beschönigt nichts, sondern zeigt den Missbrauch, wie er wirklich ist. Wir als Leser haben genügend Distanz zum Geschehen, dass wir genau bezeichnen können, was es ist – dennoch wird uns diese Distanziertheit regelmäßig genommen, denn wir erfahren alles aus Vanessas Perspektive. Ihre Gedanken und Gefühle, wenn alles mit einem an sie gedrückten Bein beginnt, ihr Leid, wenn sie mehr oder weniger einwilligend das erste Mal Sex mit Strane hat. Wie ihr Geist sich von ihrem Körper abspaltet, während sie ihn machen lässt, und sie ganz weit weg ist – sogar noch Jahre später, als sie in ihren Zwanzigerjahren Sex mit älteren Fremden hat.
Kate Elisabeth Russell betont in einem Vorwort, dass es sich nicht um die Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte handelt, auch, wenn es Ähnlichkeiten bezüglich der Wohnorte und Schulen gibt. Ohne das Vorwort hätte dieser Eindruck wirklich entstehen können, denn so detailliert und emotional, wie sie die Begebenheiten schildert, scheint es keine andere Erklärung zu geben. Es ist, wie man wohl auch bei blutigen Serienmörder-Thrillern sagt: Wie kann man sich so etwas nur ausdenken?
Nicht, dass ich vergewaltigt worden wäre. So kann man es nicht nennen. Strane hat mir zwar manchmal wehgetan, aber niemals so. Natürlich könnte ich behaupten, dass er mich vergewaltigt hat, man würde mir sicher glauben. Ich könnte mich dieser Bewegung von Frauen anschließen, die nun, eine nach der anderen, jedes kleine Missgeschick an die große Glocke hängen, das ihnen je zugestoßen ist, aber ich werde nicht lügen, um mich bei ihnen einzureihen. Ich werde mich nie als Opfer bezeichnen.
Nichtsdestotrotz habe ich dieses Buch gerne gelesen – auch wenn sich das völlig unpassend anhört. Ich habe den Schreibstil der Autorin genossen und bin wirklich durch die Seiten geflogen – natürlich auch, weil ich unbedingt wissen wollte, wie die Vanessa der Gegenwart sich entwickelt, ob sie es schafft, sich ihrem Trauma zu stellen oder ob sie ihr Leben einfach weiterlebt wie bisher.
Fazit: Ein wahnsinnig aufrüttelndes Buch. Lange habe ich nicht mehr so mit einer Protagonistin mitgelitten wie mit Vanessa. Die Diskrepanz zwischen dem, was wirklich passiert ist und wie Vanessa 20 Jahre später die Geschehenisse für sich abgespeichert hat, ist unfassbar, und man möchte sie einfach nur schütteln. Dennoch bin ich froh um das Ende, das die Autorin Vanessa „gewährt“ hat (no Spoilers here). Nach dieser Lektüre habe ich mir jedenfalls „Lolita“ von Nabokov zugelegt, mit der Hoffnung, viele Anspielungen, die es in „Meine dunkle Vanessa“ gibt, zu verstehen. Vielleicht gibt es dann ja sogar noch einen Reread. Vanessa und ihr Schicksal hat mich jedenfalls nach der Lektüre noch lange nicht losgelassen.
Weitere Meinungen: Traumrealistin | Vielleserin
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom C. Bertelsmann Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Kate Elisabeth Russell / Meine dunkle Vanessa / C. Bertelsmann Verlag / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 450 Seiten / ISBN: 978-3-570-10427-9 / Erschienen am 17.08.20 / zur Verlagsseite
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