Der Autor hält dem Leser den Spiegel vor und zeigt, was beim Thema „Flüchtlinge“ in Deutschland alles schief läuft.
Was passiert mit einer Hausgemeinschaft, wenn auf einmal statt Mülltrennung Weltpolitik diskutiert wird? Die Linde im Hinterhof grünt gerade erst, als die Bewohner der Nummer 68 im Prenzlauer Berg entscheiden, dem syrischen Kriegsflüchtling Samih Unterschlupf zu bieten. Über die Aufnahme von Samih entscheiden alle Hausbewohner: Inga und Jan wollen ihn retten. Die Studentinnen Nikola und Julia möchten schon irgendwie helfen. Die alten Berliner Günther und Ute wollen, dass sich nichts ändert. Das gutbürgerliche Paar Anne und Sven sorgt sich um die Sicherheit seiner Tochter. Der scharfzüngige Schriftsteller Ott und der Amerikaner Will spotten. Und die Eltern der kenianischen Familie Massawe bleiben skeptisch, während ihr Sohn ein großes Abenteuer wittert. Bevor das letzte Blatt der Linde im Herbst fällt, hat jeder der Bewohner einiges über sich offenbart. Mit scharfer Beobachtungsgabe öffnet uns Maik Siegel ein Fenster in den Hinterhof eines typischen Berliner Hauses, wo Zynismus und Alltagsschmerz aufeinanderprallen. (zur Verlagsseite)
Im Rahmen meiner „Lesen außerhalb der Komfortzone“ Aktion habe ich mich mal wieder aus meiner bequemen literarischen Reichweite begeben, und zwar mit Maik Siegels Gesellschaftsroman „Hinterhofleben“. Normalerweise versuche ich, beim Lesen wenigstens eine gewisse Distanz zu politischen Themen zu wahren, dabei sind gerade diese Themen doch besonders wichtig. In Siegels Roman geht es also um ein Paar, das einen syrischen Flüchtling Unterkunft bieten möchte. So weit, so gut, doch hat jeder der 14 (sofern ich mich nicht verzählt habe) Bewohner der Nummer 68 da auch ein Wörtchen mitzureden. Während die einen für die Aufnahme Samihs sind, sind die anderen dagegen, und als der Syrer dann nach einem demokratischen Entscheid in Inga und Jans Wohnung landet, entspinnen sich Intrigen und Verschwörungen zwischen den Mietern, die Gerüchteküche brodelt, und mittendrin steht Samih, der sich nichts zu schulden kommen lässt, aber trotzdem „auffällig schweigsam“ oder „verdächtig“ scheint – zumindest für einige der Anwohner. Was ist ihm widerfahren? Und was ist seine Geschichte? Ist er wirklich ein Alawit und hat Menschen auf dem Gewissen? Oder ist alles doch ganz anders, als die Bewohner der 68 sich zusammengespinnt haben?
Maik Siegel bringt mit „Hinterhofleben“ ein sehr wichtiges Thema in unseren Aufmerksamkeitsbereich. Denn oft werden die Augen vor Themen wie der Flüchtlingskrise verschlossen, Gerüchte verbreiten sich, Vorurteile entstehen. Dass dies nicht die optimale Entwicklung ist, sollte klar sein. Siegel zeichnet seine Charaktere deshalb so, dass der Leser innerhalb des Mikrokosmus der Nummer 68 möglichst diverse Meinungen und Ansichten erfahren kann. Sei es nun die kritische Ute, die gern alle möglichen (vor allem negativen) Gerüchte im Haus herumtratscht, damit jeder bloß Bescheid weiß, „wen er sich da ins Haus geholt hat“, oder aber Inga, deren Idee es ja war, Samih eine Unterkunft zu bieten, die sich aber ärgert, weil die anderen Bewohner ihn nicht so aufnehmen, wie sie es sich gewünscht hätte. Und weil Samih nicht ihren Erwartungen – welche Erwartungen darf man denn an einen Flüchtling haben? – entspricht: Samih ist nicht dürr, struppig und gezeichnet genug, erscheint ihr gar wie ein normaler Mensch; er blüht auch nicht, wie erhofft, unter ihrer Fürsorge auf. Inga will Samih helfen, aber sie möchte für ihre selbstlose Tat anerkannt werden, laut Freund Sven am liebsten einen „Preis bekommen“. Die Aufnahme Samihs erscheint mehr und mehr ihrem Schuldbewusstsein geschuldet, ihrem Wunsch nach Anerkennung und Lob, und nicht der Selbstlosigkeit, die sie vorgibt.
Flüchtlinge ja, aber nicht, wenn sie das gemütlich bürgerliche Leben beeinträchtigten.
Samih gegenüber negativ eingestellt erscheint auch Miesepeter und Grummel Ott, der Samih sogar einen deutschen Namen (Erwin) erteilt. Während Sven, Anne, und die beiden Studentinnen Julia und Nikola anfangs die Aufnahme Samihs begrüßen, hält Ott sich aus der Diskussion heraus, streut aber selbst Gerüchte über den Syrer oder lässt ihn Schweinefleisch essen. Jedoch erscheint Ute als einzigste der Beherbergung Samihs am Ende völlig abgeneigt, befürchtet sie doch, dass dieser letzten Endes nutzlos und ohne Beschäftigung gelangweilt im Hof herumsitzen und vermutlich anfangen würde, Drogen zu verkaufen und im Müll nach Pfandflaschen zu wühlen.
Und während der kleine Tumaini, Sohn der afrikanischen Familie im Haus, nachforscht, was es denn mit diesen Flüchtlingen überhaupt auf sich hat und wieso diese ihr Land verlassen müssen, erkennt der Leser nach und nach erkennt, wer aus der Nummer 68 sich wirklich um Samih sorgt und ihn nicht nur aus Schuldgefühlen oder „weil man das gerade so macht“ aufnimmt; sich seine Geschichte anhört; mitfühlt.
Gab es in Deutschland wirklich nicht genug Platz für Flüchtlinge? Und warum war es Menschen nicht erlaubt, ein Land zu betreten? […] Mal angenommen, seine Eltern waren keine Flüchtlinge gewesen: Warum hatten sie nach Deutschland kommen dürfen, der Flüchtling aber nicht? Wie konnte es Platz für Leute wie seine Eltern geben, aber keinen Platz für Flüchtlinge? Die ganze Sache schien kompliziert zu sein.
Gerade am Anfang fand ich es schwierig, den Überblick über die zahlreichen Charaktere zu behalten. Doch je weiter man im Buch voranschreitet, desto besser lernt man jeden einzelnen von ihnen kennen und kann schon vermuten, wie jeder auf dieses oder jenes Gerücht, das aufkommt, reagieren wird. Mein Lieblingscharakter der 68 ist aber Ott, der mit seiner arrogant-grummeligen Art Erinnerungen an Jack Nicholson in „Besser geht’s nicht“ aufkommen lässt. Spätestens, wenn der Leser den Brief Otts an die Raver im Hause zu Gesicht bekommt, macht sich doch eine Art Zuneigung an den muffeligen alten Mann breit. In diesem bittet Ott die das Haus beschallenden Mieter, die Musik doch bitte in gesitteter Lautstärke zu hören oder besser komplett abzustellen, sonst „scheiße ich euch auf die Türmatte“. 😀
Doch nicht nur Ott ist ein gelungener Charakter in Siegels „Hinterhofleben“; der Autor fleischt die meisten seiner 68er toll aus, außer den beiden Studentinnen lernen wir so gut wie alle Charaktere näher kennen und können Einblick in ihre Gedanken zum Thema „Flüchtlinge“ gewinnen. Die Erzählsprache ist dem Thema angemessen, es wird nie zu albern, zu witzig, die Kritik an den Anwohnern und ihre innere Zerrissenheit steht stets im Vordergrund; die Geschichte erhält ihren nötigen Ernst. Deshalb ist „Hinterhofleben“ auch kein Buch für „einfach mal zwischendurch“, sondern lädt zum Verweilen ein, zum Grübeln, zum Meinungen bilden.
Es ist die Angst. Sie bestimmt fast unser ganzes Leben: Angst vor dem Krieg, Angst vor dem Ertrinken, Angst davor, seine Familie zu verlieren. Und manche Menschen haben Angst vor Flüchtlingen.
Fazit: Maik Siegel zeichnet mit seinem Großstadtroman einen Querschnitt der Meinungen, Vorurteile und des gefährlichen Halbwissens, das sich in Deutschland zum Thema „Flüchtlingskrise“ tummelt. Er hält uns einen Spiegel vor und zeigt, was in Deutschland gerade schief läuft. Der Autor plädiert mit seinem Werk für einen vorurteilsfreien Umgang mit Flüchtlingen und zeigt uns, wie es nicht geht. „Hinterhofleben“ ist kein leichtes Buch, auch keines für unterwegs, sondern man sollte sich beim Lesen Zeit nehmen, um alle Facetten und Feinheiten der 68er zu erkennen.
Dieses Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Divan Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Maik Siegel, Hinterhofleben. Divan Verlag Broschiertes Buch, 260 Seiten ISBN: 9783863270469 Erschienen: 27.11.2017
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Wenn es nicht schon auf meinem SuB läge, dann sicher jetzt. Bin sehr gespannt auf diese Geschichte.