Eine Generationen umfassende Familiengeschichte, toll erzählt, aber leider etwas langatmig.
Während in Deutschland die Mauer fällt, sitzt Michael am Bett seines Großvaters, der in der letzten Woche seines Lebens plötzlich gesprächig geworden ist. Der Enkel erfährt, wie der Großvater einmal seinen Chef fast mit einer Telefonschnur erdrosselt hätte, warum er eine Brücke in Washington in die Luft sprengen wollte, wie er in Deutschland den verhassten Wernher von Braun jagte, warum von Braun und er dieselbe Leidenschaft teilten und wie er nach dem Tod seiner Frau eine neue Vertraute fand. (zur Verlagsseite)
Michael Chabons „Moonglow“ hat mich zunächst durch sein wunderbares Cover angesprochen, den Ausschlag zum Lesen hat aber schließlich der verrückte Klappentext gegeben. Man vermutet einen Roman, der über ein verrücktes und ausschweifendes Leben erzählt, im Vorwort wird jedoch schnell klar, dass es sich um ein Memoir handelt – von Autor Michael Chabons Großvater. Wie viel Wahrheit in diesem Buch liegt, weiß man nicht, und ich finde, das macht auch den Reiz aus. Chabon sagt in seinem Vorwort selbst: „Beim Schreiben dieser Memoiren habe ich mich an die Fakten gehalten, es sei denn, sie wollten sich einfach nicht der Erinnerung, dem dichterischen Willen oder der Wahrheit, wie ich sie gerne verstehe, beugen.“ Es geht um Michaels Großvater (der ebenso wie seine Großmutter nie beim Namen genannt wird), der in vielerlei Hinsicht ein ausgefülltes Leben geführt hat. Doch nicht nur Chabons Großvater ist Thema von „Moonglow“, es handelt sich hier vielmehr um eine mehrere Generationen umfassende Familiengeschichte. Diese beinhaltet Episoden aus dem Leben des Großvaters, aber wir lernen auch seine Großmutter und seine Mutter genauer kennen. Auf dem Sterbebett erzählt Michaels Großvater ausschweifend von seinem Leben, von seiner 14-monatigen Gefangenschaft, von seinem Weg quer durch die Vereinigten Staaten und auch vom zweiten Weltkrieg, wo der Großvater schließlich nach Deutschland reist. Da er besessen von Raketen und sein Lebenstraum zum Mond zu fliegen ist, macht er sich, wenn er schonmal in Deutschland ist, auf die Suche nach dem Ingenieur Wernher von Braun – der zufällig auch sein schlimmster Feind ist, denn er hasst von Braun aus tiefstem Herzen. Doch nicht nur negative Ereignisse ziehen sich durch die Lebensgeschichte des Großvaters, sondern auch tolle Augenblicke, die der Leser miterleben darf: Wie er zum ersten Mal seine zukünftige Frau erblickt und wie die beiden sich kennenlernen, füllt auch einen nicht unbeträchtlichen Teil der Memoiren.
Ich bin von mir enttäuscht. Von meinem Leben. Mein Leben lang hab ich bei allem, was ich angepackt habe, nur die Hälfte geschafft. Man versucht, die Zeit zu nutzen, die man hat. Das wird einem eingeredet. Aber wenn man alt ist, schaut man zurück und sieht, dass man all die Zeit nur verschwendet hat.
Chabons Großmutter ist selbstverständlich auch ein großes Thema von „Moonglow“, nicht nur, weil sie die Frau seines Großvaters wird, sondern weil sie ihre ganz eigene, nicht immer ganz verständliche Geschichte mitbringt: So wird sie seit ihrer Kindheit von einer Halluzination verfolgt, einem gehäuteten Pferd. Dies rechnet der Großvater ihrer Kindheit in einer Gerberei-Familie zu, wo sie jeden Tag viele leblose (und hautlose) Tiere sah. Doch ihre Halluzination bringt sie letzten Endes in eine Psychiatrie, und besonders ihre Tochter, Chabons Mutter, damals noch sehr jung, kommt mit der Situation nicht besonders gut klar. Als sie dann auch noch zu einem späteren Zeitpunkt zu ihrem Onkel Ray, der vom Rabbi zum Normalo gewechselt ist, ziehen soll, während ihr Vater ins Gefängnis muss, nimmt die Geschichte einen tragischen Höhepunkt.
Die Ereignisse in „Moonglow“ werden leider nicht chronologisch erzählt, sehr zu meinem Leidwesen, denn die ständig umher springenden Episoden haben mich permanent verwirrt. Ach, wir sind wieder in Deutschland? Aber wir haben doch gerade mit Sally Sichel Schlangen gejagt! So oder so ähnlich waren meine Gedanken bei der Lektüre. Obwohl Chabons Großvater in der Rahmenhandlung (Chabon am Sterbebett seines Großvaters, wie er die Geschichte hört) sich sogar wünscht, dass Chabon seine Geschichte doch bitte geordnet und nicht in dem „Mischmasch“ niederschreibt, wie er sie erzählt, hält sich Chabon letzten Endes doch nicht daran. Und so kam es, dass eine Episode, die mich sehr interessiert hat, erst 200 Seiten später weitergeführt wurde, sodass ich mich häufig gar nicht mehr daran erinnern konnte, was genau vorher geschehen ist. Aber vielleicht steckt dahinter ein spannender Gedanke: dass nämlich unser Leben bzw. unsere Erinnerungen daran, oft bruchstückhaft sind, vor allem, wenn man so lange lebt wie der Großvater, und dass unser Gehirn auch vieles durcheinanderwirft. Demnach wäre diese „Mischmasch“-Reihenfolge, so wie sie ja auch erzählt wurde, die authentischste, wenn man ein gelebtes Leben nachspüren möchte. Aber zurück zum Buch: Chabon hat eine ganz tolle Erzählsprache und die zahlreichen Fußnoten geben dem Leser immer noch ein paar interessante Informationen zu dem, was da gerade passiert. Zugegeben, einige Szenen waren rein historisch und da haben dann auch die Fußnoten nichts daran geändert, dass ich mich gefühlt habe, als würde ich ein Geschichtsbuch lesen. Weiterhin kam mir „Moonglow“ sehr lang vor — natürlich, 90 Jahre verpackt man schlecht in 200 Seiten — dennoch hätte Chabon sich viele Ausschweifungen sparen können und das Buch wäre vielleicht 150 Seiten dünner gewesen. Dennoch habe ich gern über seinen Großvater gelesen, vor allem die Geschichte der Großmutter fand ich äußerst spannend und auch die Episoden mit Sally Sichel waren toll zu lesen. In diesen macht sich Chabons Großvater mit einem „Schlangenhammer“ auf die Jagd nach Sichels verschwundenem Kater Ramon, der vermutlich von einer Schlange gefressen wurde. Klingt nicht nur witzig, ist es auch!
Wie Blut hatten Tränen eine Funktion. Sie dienten dazu, die Stärke und Härte des Schlags anzuzeigen, den man eingesteckt hatte.
Fazit: Obwohl das Buch seine Längen hatte, habe ich mich doch wohl gefühlt mit den Charakteren aus „Moonglow“. Einige Episoden hätten meiner Meinung nach aber gerne ach kürzer ausfallen können, so beispielsweise die Zeit, die der Großvater in Deutschland und im Krieg verbracht hat. Vielleicht war ich beim Lesen aber auch nur mürbe vom Thema Krieg, nachdem ich Köhlers „Ein mögliches Leben“ erst kürzlich beendet hatte. Die Art, wie Chabon dieses Memoir (oder ist es doch ein Roman?) verpackt hat, wie er die Lebensgeschichte seines Großvaters erzählt, finde ich faszinierend, und, wie oben bereits erwähnt, hat mich besonders die Geschichte der Großmutter und ihrem „gehäuteten Pferd“ interessiert. Nichtsdestotrotz waren die ganzen historischen Passagen, wo Chabon wie ein Geschichtsbuch klingt, ein Downer, ebenso wie die nicht chronologische Reihenfolge der Episoden; beides hat mich immer aus der Geschichte rausgebracht und ich kam nur schwer in neue Episoden oder welche, die fortgesetzt wurden, rein. Weil der Lesefluss für mich durch diese zwei Faktoren dermaßen gestört wurde, gibt es leider nur 3,5/5 Sternen für „Moonglow“.
Dieses Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Kiepenheuer & Witsch Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Michael Chabon, Moonglow. Kiepenheuer & Witsch Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 496 Seiten ISBN: 9783462050745 Erschienen: 08.03.18