Ein komplexer Roman, der seiner Grundidee leider nicht gerecht wird und sich in seinen Fragmenten und Perspektivenwechseln verliert.
Gehorcht das Leben eines Menschen den Gesetzen eines mathematischen Beweises? Martin Gödeler, Doktor der Mathematik, Nachhilfelehrer aus Stuttgart, wird verdächtigt, für das Verschwinden seiner Urlaubsbegleitung Susanne Melforsch verantwortlich zu sein. Ein junger Staatsanwalt möchte den Mathematiker unbedingt des Mordes überführen. Doch es kommt anders. Dr. Gödeler ist über die Maßen auskunftsfreudig. Was der Staatsanwalt zu hören bekommt, ist nicht weniger als die Lebensgeschichte des Verdächtigen. Ein Zahlengenie, dessen Leben stets von der Ekstase diktiert war, sei es in seinen Beziehungen zu Frauen, sei es im Aufgehen in der Mathematik. Als die Untersuchungshaft aufgehoben wird, verschwindet Martin Gödeler spurlos. Was bleibt, ist das Protokoll einer höchst eigentümlichen Existenz, eines Lebens zwischen Genialität und Verwahrlosung.
In der letzten Zeit haben sich einige Bücher über Mathematiker oder Physiker in meine Lesestapel eingeschlichen, jüngst der neue Roman von Michael Wildenhain, „Die Erfindung der Null“. Konstruiert wie ein mathematischer Beweis, sind die Kapitel unterteilt in Induktionsschritte, Proben, Gegenproben und Nebenbetrachtungen. Der fragmentarischen Handlung zwischengeschoben sind erläuternde Kapitel, die unter der Überschrift „Lemma“ laufen und mathematische Beweisverfahren erläutern. Wenn man den Klappentext liest, macht dieser Aufbau Sinn, denn es gilt die Schuld oder eben die Unschuld Dr. Martin Gödelers zu beweisen. Die Mordbeschuldigung bildet den Tiefpunkt seines bisher nicht so berauschend verlaufenden Lebens. Während Dr. Gödeler vor gut 30 Jahren erfolgreich seine Karriere in der Mathematik vorantrieb, lief sein Leben nach der Begegnung und die anschließende Affäre mit Susanne Melforsch irgendwie den Bach herunter. Zuletzt arbeitete er als Nachhilfelehrer an einer Schule, auf der sich wirklich niemand für Mathematik interessiert. Und im Hintergrund tauchen immer wieder Erinnerungen an die damalige Affäre mit Susanne auf. Susanne für ihren Teil verfolgt nämlich ein psychologisches Spielchen mit dem Mathematiker, das für den Leser erst im Verlauf des Buchs Sinn ergibt. So weit, so verworren! Michael Wildenhains Roman erzählt in oben bereits erwähnten Fragmenten, aus anderen Perspektiven und verschiedenen Zeitpunkten die Lebensgeschichte des Dr. Gödeler.
Manche Menschen wirken auf den ersten Blick wie Verlorene. Als hätte ein Ereignis in ihrem Leben sie aus der Bahn getragen und als hätten sie trotz aller Bemühung nicht wieder Fuß gefasst.
Ein wirklich verwirrendes Buch! „Die Erfindung der Null“ lockt mit seinem interessanten Klappentext, nur um dann auszuholen und den Leser mit einer Keule aus Psycho-Spielchen und chaotischen Fragmenten auszuknocken. Was ja grundsätzlich nicht schlecht sein muss! Ein großes Aber gibt es allerdings doch: Während fragmentarische Romane meiner Erfahrung nach zum Ende hin meist ein vollständiges Bild ergeben, hatte ich nach der Lektüre dieses Romans zwar einen kleinen Aha-Effekt, allerdings kam mir das Gelesene dann doch mehr vor wie ein Flickenteppich aus kleinen Handlungsfetzen, die nicht richtig ineinandergreifen wollen (oder können). Wir erleben die Geschichte teilweise aus mehreren Perspektiven, um wirklich jedes Motiv erkennen zu können – ein Kniff, der mich bereits bei Kanae Minatos „Geständnisse“ stark genervt hat. Denn anders als bei einem Film, wo diese Perspektivenwechsel der Handlung Auftrieb geben und die Spannung steigern können, ist dies beim Lesen mühselig. Da hat der flüssige und angenehm zu lesende Schreibstil des Autors wirklich einiges wettgemacht, auch wenn ich das für die „Lemma“-Kapitel wiederum nicht unterschreiben kann. Diese Einschübe sind für einen Mathe-Noob wie mich nicht immer verständlich und oftmals musste ich diese Kapitel mehrmals lesen, um wirklich dahinterzukommen, was das denn nun mit der eigentlichen Geschichte zu tun hat. Dass ich dabei einiges gelernt habe, ist nicht zu bestreiten – ein netter Nebeneffekt.
Leider ist auch die eigentliche Handlung, die Vernehmung, etwas kurz gekommen, man erfährt nur sehr wenig aus der Gegenwart. Einen spannende Schlagabtausch zwischen potenziellem Mörder und Anwalt sucht man hier vergeblich. Dennoch hat der Anwalt mehr mit der Geschichte zu tun, als man eigentlich annimmt…
Fazit: Wer komplex konstruierte Romane mag und sich in der aktuellen Lage gut konzentrieren kann, für den ist „Die Erfindung der Null“ ein gefundenes Fressen. Nicht-chronologische, zwischen Perspektiven wechselnde Fragmente eines Lebens wechseln sich ab mit der Vernehmung Dr. Gödelers. Wer wie ich im Moment keine riesige Aufmerksamkeitsspanne hat und Bücher nur selten in einem Rutsch durchlesen kann, wird sich schnell mit verwirrenden Handlungssträngen und vermeintlich unbekannten Charakteren konfrontiert sehen, die das Lesevergnügen schmälern. Leider kam bei mir im Verlauf des Buchs keine richtige Spannung auf – bis auf diesen einen Aha-Moment, den ich zudem nicht richtig einordnen konnte. Von mir gibt es daher nur eine sehr eingeschränkte Leseempfehlung.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Klett-Cotta Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Michael Wildenhain / Die Erfindung der Null / Klett-Cotta Verlag / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 303 Seiten / ISBN: 978-3-608-98305-0 / Erschienen am 25.07.20 / zur Verlagsseite
Huhu,
ach Mensch, ich war tatsächlich erst gestern über das Buch gestolpert und fand es total interessant. Aber die Bewertungen auf A und nun auch deine Rezension sind leider nicht so positiv, wie ich mir erhofft hatte und für ein Buch, bei dem ich so 50/50 Chancen habe es gut zu finden, ist mir mein SuB zu hoch und meine Lesezeit im Moment zu kostbar.
Liebe Grüße,
Sandra
Von dem Buch habe ich bisher noch nichts gehört, was scheinbar auch nicht allzu tragisch ist. Schade.