Feministische Literatur aus Japan – brandaktuelle Themen, in eine Geschichte über zwei Schwestern und ihr Leben in einer oppressiven Gesellschaft verpackt.
An einem drückend heißen Sommertag wird die dreißigjährige Natsuko von ihrer älteren Schwester Makiko und deren Tochter Midoriko in Tokio besucht. Makiko, die mit zunehmendem Alter mit ihrem sich verändernden Körper nicht zurechtkommt, ist davon besessen, sich einer Brustvergrößerung zu unterziehen. Währenddessen ist ihre zwölfjährige Tochter Midoriko von der einsetzenden Pubertät überfordert und sieht sich außerstande, in einer Gesellschaft, die alles Intime und Körperliche tabuisiert, ihre Ängste, Bedürfnisse und Fragen offen zu kommunizieren. Und auch die asexuelle Natsuko hadert mit der Frage, welche Rolle noch bleibt – als unverheiratete Frau, die nicht mehr Tochter ist und vielleicht nie Mutter sein wird.
Im Rahmen des Brüsteclubs auf Instagram habe ich diesen fabelhaften Roman bereits vor einiger Zeit gelesen, wollte mich dann vor dem Verfassen der Rezension doch noch einmal sammeln. Denn Mieko Kawakamis „Brüste und Eier“ wirft viele Fragen auf und bietet Zündstoff für mindestens genauso viele Diskussionen. Es geht um Feminismus in Japan, einem Land, das stets als fortschrittlich gepriesen wird, wenn es um Technologie geht, das aber in puncto Rollenverteilung, Diskriminierung und Gleichberechtigung sehr weit hinterherhinkt. Viele Bücher japanischer Autor*innen, die ich bereits gelesen habe (bspw. Sayaka Muratas Romane) werfen diese Themen immer wieder auf, um sie zu enttabuisieren und Raum für Diskussionen zu bieten. Wir begleiten also Makiko und ihre Tochter Midoriko sowie Makikos Schwester Natsuko. Während Natsuko aufgrund ihrer Asexualität durch das Raster fällt und nicht sehr viel auf Konventionen gibt bzw. diese stark hinterfragt, ist ihre Schwester Makiko das komplette Gegenteil. Beschämt über ihren eigenen Körper, setzt sie alles daran, ins Bild der perfekten japanischen Frau zu passen. So will sie sich nicht nur ihre Brüste vergrößern lassen, sondern hellt auch ihre Brustwarzen regelmäßig mit einer brennenden, bleichenden Creme auf. Alles für das Schönheitsideal, auch wenn es weh tut. Ihre Tochter leidet derweil unter der einsetzenden Pubertät und der Tatsache, dass sie mit niemandem darüber sprechen kann, da diese Themen immer noch stark tabuisiert sind. So schottet sie sich ab, spricht mit niemandem, lässt aber ihrem Ekel gegenüber den Plänen ihrer Mutter bzgl. deren Brust-OP freien Lauf. Dieser Ekel ist bereits der erste Hinweis darauf, dass irgendetwas schief gelaufen ist bei der Aufklärung (sofern es diese denn überhaupt gab). Midoriko sträubt sich vielleicht aber auch gegen ihre Pubertät und die damit einhergehenden Veränderungen, da sie täglich sieht, wie ihre Mutter unter den Erwartungen der Gesellschaft an Frauen zerbricht. Hier ist viel Spielraum zur Interpretation.
Schön ist gut. Und gut macht glücklich. Glück lässt sich sicher verschieden definieren, aber jeder, bewusst oder unbewusst, will auf seine Art glücklich sein. Selbst ein Mensch, der sterben will. Er sieht sein Glück im Tod. Er sieht sein Glück in der Auslöschung seiner selbst. Die Antwort lautet: Glück. Nicht mehr und nicht weniger.
„Brüste und Eier“ fokussiert sich also auf das stereotype Rollenbild der Frau, das in Japan immer noch vorherrscht. Aber auch Themen wie Familie widmet sich Kawakami. Ins Zentrum der Erzählung rückt nämlich immer weiter die alleinstehende Natsuko, die sich mit ihren 30 Jahren immer noch nicht sicher ist, ob sie Kinder möchte oder nicht – und dafür ist sie, gemessen an Japan Standards, reichlich spät dran. Und wie sollte sie ohne Mann auch Kinder bekommen? Natsuko beschäftigt sich immer mehr mit künstlicher Befruchtung und der zweite Teil des Romans widmet sich vollends ihren Überlegungen, ob und wie sie es wagen soll, über einen Samenspender schwanger zu werden. Da in Japan das Bild von einer Mann-Frau-Ehe gebräuchlich ist (was auch sonst), fallen gleichgeschlechtliche Paare und Singles mit Kinderwunsch auch hier durch das gesellschaftliche Raster; ihnen wird eine künstliche Befruchtung nahezu unmöglich gemacht. Lediglich über den „Schwarzmarkt“ – dubiose Webseiten, die Sperma ausländischer Männer anbieten, oder auch über Kontaktanzeigen (von nicht weniger dubiosen Männern) – wird nicht-stereotypen Personen eine künstliche Befruchtung ermöglicht.
Kawakami schildert ganz alltägliche Probleme von Frauen in Japan, jedoch schafft sie es leider nicht ganz, dass man eine Bindung zu den Charakteren entwickelt. Da Midoriko in weiten Teilen des Romans nicht spricht, erfahren wir Auszüge ihrer Gedankenwelt lediglich aus Tagebuch-Snippets. Makiko erscheint mir ebenfalls nicht ganz ausgegoren; allerdings bekommt sie auch nicht so viel „Screentime“ wie Natsuko. Bei ihr hatte ich eigentlich gehofft, dass sie sich während des Romans noch entwickelt, jedoch blieb auch sie relativ blass und viele ihrer Gedankengänge konnte ich nicht ganz nachvollziehen. Nichtsdestotrotz habe ich mich von Mieko Kawakami gern nach Japan entführen lassen. Dieser typisch japanische, unaufgeregte Schreibstil trifft bei mir einfach jedes Mal ins Schwarze und so war es auch bei „Brüste und Eier“. Kawakami schreibt leise und ruhig über Themen, die nicht nur die Charaktere rasend machen vor Wut. Oft habe ich mich beim Schnauben erwischt, wenn ein „ordentlicher Familienvater“ beschrieben wird, der das Geld ins Haus bringt und von Frau und Tochter umsorgt wird, während der Sohn in seine Fußstapfen tritt und ebenfalls reichlich Extrawürste bekommt.
Wenn ein Mann verheiratet ist und Kinder hat, muss er das Bild einer glücklichen Familie präsentieren, alles andere ist nicht genehm. Ohne die Frau funktioniert auch die Kommunikation mit den Eltern und der Familie nicht mehr. Traurig, aber wahr. Männer können nur rumsitzen und die Klappe aufreißen, mehr nicht. Alles andere bleibt an den Frauen hängen.
Fazit: Die Länge dieses Romans mag eher untypisch erscheinen (viele japanische Romane sind nach meinem Gefühl eher bei ~250 bis 300 Seiten angesiedelt), doch dies hat einen Grund: Kawakami schrieb den ersten Teil bereits vor längerer Zeit, der zweite Teil rund um Natsuki wurde erst viel später ergänzt. Im Stil habe ich jedoch keine großen Unterschiede gemerkt, sodass dies mir bis nach der Lektüre bei der Recherche um die Hintergründe zum Buch erst auffiel. Und trotz oder auch gerade wegen der Länge von knapp 500 Seiten habe ich dieses Buch sehr gern gelesen, denn zum einen sind die besprochenen Thematiken für mich sehr interessant, zum anderen konnte ich mich richtig in die Lektüre hineinfallen lassen, was bei kurzen Romanen immer etwas schwierig ist. Und besonders weil Themen rund um Feminismus, Diskriminierung und Stereotypen immer wichtig sind und hier auch ohne großes Brimborium besprochen werden, möchte ich „Brüste und Eier“ jedem ans Herz legen, der sich für die Rückständigkeit des Frauenbildes in einem vermeintlich fortschrittlichen Land interessiert.
Desweiteren finde ich die Entwicklung der letzten Zeit, dass japanische Autor*innen sich vermehrt dem Thema Feminismus widmen, wunderbar! Ich habe auch gleich ein paar Vorschläge für euch, bei denen ihr die thematisch passende Lektüre gleich fortsetzen könnt:
- Sayaka Murata, Das Seidenraupenzimmer
- Cho-Nam-Joo, Kim Ji-young, born 1982 (im Frühjahr auch auf Deutsch!)
- Sayaka Murata, Die Ladenhüterin
Weitere Meinungen:
Japanliebe • Female Writers Club • Japan Digest • Electric Literature • Dangerous Reading
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Dumont Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Mieko Kawakami / Brüste und Eier / Dumont Verlag / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 496 Seiten / ISBN: 978-3-8321-7043-1 / Erschienen am 18.08.20 / zur Verlagsseite
Hatte ich schon mal hier kommentiert?
Mh… auf jeden Fall hab ich das Buch nun auch im Blick. Danke für deine Kritik dazu 😀