Markerschütterndes Thema, das leider unzufriedenstellend in Romanform gegossen wurde.
Acht Frauen. 48 Stunden Zeit, die eigene Geschichte umzuschreiben. Jahrelang haben sie versucht, mit dem, was geschehen ist, zurechtzukommen. Jetzt haben die Frauen einer abgeschieden lebenden Gemeinschaft die Gelegenheit, alles anders zu machen. Und so ergreifen sie das Wort. Sollen sie bleiben oder gehen? Bleiben sie, dann müssen sie nicht nur angehört werden, sondern auch verzeihen. Gehen sie, müssen sie in einer ihnen gänzlich unbekannten Welt den Neuanfang wagen.
Nichtstun, bleiben und kämpfen oder gehen – das sind die Optionen, die die acht Frauen in Miriam Toews‘ Roman „Die Aussprache“ für sich und all die anderen Frauen in ihrer Gemeinschaft sehen. Denn in ihrer Mennonitenkolonie in Bolivien gab es in jüngster Zeit immer wieder Vorfälle, die die Frauen und ihre Kinder nicht auf sich beruhen lassen wollen und dürfen: Blutverschmiert und schmerzerfüllt wachten die weiblichen Mitglieder der Gemeinde auf, selbst die kleinsten Mädchen. Der Grund dafür blieb zunächst im Verborgenen, denn die Frauen konnten sich an nichts erinnern. Bis sich eines Tages herausstellt, dass einige Männer der Kolonie die Frauen nachts mit Betäubungsmittel außer Gefecht setzten und sie immer und immer wieder, über mehrere Jahre hinweg aufs Schlimmste missbrauchten. Zwischen 2005 und 2009 gab es über dreihundert Opfer innerhalb der Kolonie, das jüngste war drei Jahre alt. Die Männer der Gemeinschaft wollten die Opfer allerdings glauben machen, dass Dämonen die Frauen für ihre Sünden heimsuchten oder gar ihre Fantasie mit ihnen durchginge. Schon während ich diese Zeilen schreibe, überzieht mich eine Gänsehaut, denn – man mag es sich überhaupt nicht vorstellen – diese Ereignisse fanden tatsächlich statt. Miriam Toews gibt diesen unfassbaren Vorfällen nun einen literarischen Rahmen und setzt die Frauen der Kolonie in ihrem Roman in eine Scheune, wo sie nach der fürchterlichen Offenbarung beraten, was sie nun tun sollen. Die Männer der Kolonie sind in der Stadt und stehen unter polizeilicher Verwahrung, sollen aber von einigen übrig gebliebenen Mitgliedern der Gemeinschaft gerade „freigekauft“ werden – zumindest für die Dauer bis zur Anklage. Den Frauen bleiben also nur zwei Tage, bis ihre Peiniger wieder zurück im Dorf sind, um sich zu entscheiden, wie sie handeln sollen.
Miep selbst versteht nicht, warum sie an bestimmten Stellen ihres kleinen Körpers Schmerzen hat oder dass sie eine Geschlechtskrankheit hat.
Bleiben, kämpfen oder gehen – die Optionen der Frauen der Mennonitenkolonie sind wahrhaftig nicht zahlreich. Die Männer lassen ihnen sogar nur eine Wahl aus zwei Möglichkeiten: den Männern verzeihen und bleiben oder den Männern nicht verzeihen und die Kolonie verlassen, wobei den Männern und wohlgemerkt auch ihnen das Leben nach dem Tod im Himmel versagt wird. Diese Option wird von einigen Frauen deshalb nicht akzeptiert, auch die Männer wünschen sich natürlich trotz ihrer Taten ihren Platz im Himmel. Wie absurd das ist, diskutieren die Frauen in der Scheune aufs Genaueste. Die lebhafte Diskussion der acht Frauen und die Entscheidungsfindung zieht sich durch das ganze Buch, wird an vielen Stellen allerdings durch Anekdoten sowie biblische Gleichnisse und Geschichten aufgebrochen. Dass die Frauen eigentlich keine Rechte innerhalb der Kolonie haben und lediglich „Gebärmaschinen“ und Arbeitskräfte sind, wird schnell klar; viele der Frauen haben mehr als zehn Kinder. Keine der Frauen kann lesen und schreiben und auch Schulbildung wird ihnen untersagt. Einem Außenstehenden mag die Entscheidung möglicherweise leicht fallen, denn um nichts in der Welt würde man doch freiwillig an einem solchen Ort bleiben – doch die Frauen kennen nichts anderes und haben Angst, außerhalb der Gemeinde nicht zurechtzukommen mit der Welt, dem Fortschritt und der Gesellschaft. Und das macht den Grundgedanken von „Die Aussprache“ so interessant: Tiefgläubige Frauen, die in einer mennonitischen Gemeinde aufgewachsen sind und ihr Leben lang nichts anderes gesehen haben als vielleicht das angrenzende Mennoniten-Dorf, müssen sich entscheiden zwischen den andauernden Gewalttaten an ihnen und ihren Kindern und der Ungewissheit, ob sie „draußen“ in der Welt überhaupt einen Weg zum Überleben finden würden oder mit ihrem Nachwuchs Hunger leiden müssten.
Miriam Toews beginnt ihren Roman dabei zunächst damit, dass sie die acht Frauen und Mädchen, die an der Sitzung teilnehmen, verwandtschaftlich auflistet und im Verlauf der ersten Seiten auch vorstellt. Und hier beginnt die Misere, denn die Namen der Frauen sind ungewöhnlich und einige ähneln sich. Das macht es schwer, dem Verlauf der Geschichte uneingeschränkt zu folgen, ohne ständig zum Personenverzeichnis zurückzublättern. So wirft der Leser die Geschichten und die Hintergründe der Protagonistinnen durcheinander und die Handlung verläuft teilweise stockend, da man erst einmal überlegen muss, wer denn jetzt Otje oder Nietje ist. Das stört ein wenig und macht die Spannung, die eine solch verstörende Geschichte entstehen lässt, ein wenig kaputt. Ein weiterer Störfaktor ist August Epp, der für die Frauen, die nicht lesen und schreiben können, den Verlauf der Diskussion protokollarisch festhält, aber desöfteren davon abschweift und für die Handlung völlig irrelevante Anekdoten einfließen lässt. Der Roman, der mit einem so starken wie verstörenden Thema eigentlich unter die Haut gehen sollte, hat bereits auf den ersten Seiten einige Defizite, die sich leider durch das gesamte Buch ziehen.
Fazit: „Die Aussprache“ hätte ein so toller, so wichtiger Roman sein können. Miriam Toews tut sich meiner Meinung nach keinen Gefallen, dass sie die Protokolle im Buch von einem Mann anfertigen lässt. Natürlich, die Frauen der Kolonie können nicht schreiben, aber hätte es nicht vielleicht einen anderen Weg gegeben, diese immens wichtige Entscheidungsfindung frei von einer männlichen Stimme zu erzählen? Auch die zahlreichen, nicht zum Fall beitragenden Anekdoten von August tragen nicht zum Lesefluss bei. Zusammen mit den vielen Charakteren, die zumindest ich nicht immer auseinanderhalten konnte, entstand eine wirre Geschichte um die eigentliche Diskussion herum, die sich zwar von der Erzählsprache her flüssig lesen ließ, aber dennoch einen faden Beigeschmack hinterließ. Da hatte ich mir mehr erhofft. Schade!
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Hoffmann und Campe Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Miriam Toews / Die Aussprache / Hoffmann und Campe / Gebundenes Buch, 250 Seiten / ISBN: 978-3-455-00509-7 / Erschienen am 05.03.19 / zur Verlagsseite
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