Ein Jahr aufs Land ziehen – Natsu Miyashita wagt diesen Schritt mit ihrer Familie und lässt uns mit charmanten Tagebucheinträgen daran teilhaben.
Siebenunddreißig Kilometer bis zum nächsten Supermarkt, sechzig bis zum nächsten Videoverleih, und wo sollen die Kinder zur Schule gehen? Es gibt nur eine Gemeinschaftsschule, eine Zwergschule. Und überhaupt: Ist das Leben in der Natur – in der Wildnis – nicht gefährlich? Die Schriftstellerin Natsu Miyashita zieht auf Wunsch ihres naturverliebten Ehemannes mit den gemeinsamen Kindern von der Großstadt aufs Land, genauer gesagt in ein Dorf mitten in den Bergen. Bei der Schilderung der kleinen und großen Abenteuer, die die fünfköpfige Familie im Laufe des Jahres in Kamui Mintara, dem »Spielplatz der Götter« erlebt, kommt natürlich auch all das zur Sprache, was das Leben in der Großstadt prägte.
Nachdem bereits einige Aussteigerromane den Markt geflutet haben (so zumindest in meiner Wahrnehmung) und ich Andrea Hejlskovs “Wir hier draußen: Eine Familie zieht in den Wald” vor einer ganzen Weile gelesen hatte, erschien kürzlich Natsu Miyashitas „Der Spielplatz der Götter“ im cass Verlag, von dem mittlerweile jede Neuerscheinung auf meiner Leseliste landet (die auch bei einer Handvoll Titeln im Jahr recht überschaubar ist). Und so zog dieses außerordentlich hübsche Büchlein, das sogar in seiner Taschenbuchausgabe einen Schutzumschlag hat und ein passend gestaltetes Lesezeichen mitbringt, bei mir ein. Schön. ♥ Es geht also um die Familie der Autorin, die in der Großstadt wohnt und sich nach Abgeschiedenheit und Ruhe sehnt. Und so wird der langersehnte Traum des Familienvaters endlich wahr, als Frau (Natsu Miyashita) und Kinder zustimmen, für ein Jahr nach Tomuraushi zu ziehen, das mitten in den Bergen und abgeschnitten vom Stadtleben liegt. Von den Landsleuten wird das Dörfchen auch liebevoll „Spielplatz der Götter“ genannt, weil sich an diesem idyllischen Fleckchen Erde die Götter gerne treffen. Während Natsu Miyashita an die praktischen Schwierigkeiten des Umzugs denkt (Wo gehen die Kinder zur Schule? Können sie danach noch eine „normale“ Schule bzw. Uni besuchen? Wie kann ich von dort arbeiten und wo kaufe ich ein?), sind sowohl Mann als auch die drei Kinder vorfreudig und euphorisch. Nach einiger Planung ist auch schon das perfekte Häuschen gefunden und es kann losgehen.
In Tomuraushi gehen seltsame Dinge vor, scheint mir. Eine Woche nicht hingeschaut, und schon hat sich der See, der bei unserer Ankunft noch gefroren war, in Wasser verwandelt. »Der See hat sich in Wasser verwandelt« klingt vielleicht komisch, aber anders lässt es sich nicht beschreiben. Der hiesige See ist kein normaler See. Wenn man nicht aufpasst, entführt er einen an einen anderen Ort, in eine andere Jahreszeit, in eine andere Welt. Ja, in eine andere Welt!
Natsu Miyashita schildert ihre Erlebnisse während des Jahres in Tagebuchform, berichtet von den Tagesabläufen, Festen und Feiern sowie des Schulalltags ihrer Kinder. Dabei ist sie stets charmant und zu Späßen aufgelegt, stellenweise hat mich das Geschehen und ihre Erzählweise an Kultmutti Erma Bombeck erinnert, mit deren Geschichten ich vor langer Zeit auch meinen Spaß hatte. Es bleibt das gesamte Buch über interessant, was Frau Miyashita von ihren Kindern zu berichten hat, aber besonders, wenn sie über ihren Sohn berichtet, der nicht namentlich genannt werden möchte und sich daher Spitznamen zulegt wie Der Gentleman – die sie dann auch tatsächlich verwendet. Aber auch die Schilderung von Natur und Dorfleben sind spannend, denn ich kann mir so gar nicht vorstellen, an einem Ort zu leben, wo nahezu permanent Winter ist und Schnee liegt – und davon vor allem so viel! In den kalten Monaten können Natsu und ihre Familie manchmal kaum den Ort, geschweige denn das Haus verlassen und sind gezwungen, sich in den eigenen vier Wänden zu beschäftigen. Die Umstellung vom Stadtleben mag ihnen hier am schwersten fallen, denn es gibt in Tomuraushi weder ausgesprochen guten Handy- noch Fernsehempfang, und die nächste Videothek ist mehrere Stunden entfernt und bei Schnee auch nicht zu erreichen. Da bleibt nur, sich zurückzubesinnen auf die „guten alten Tage“, an denen man sich auch ohne Internet und Fernsehen beschäftigen konnte.
Der Gott der Gelegenheit, habe ich mal gehört, ist am Hinterkopf kahl. Wenn er an dir vorbeigegangen ist, ist es zu spät, ihn am Schopf zu packen. Das klingt plausibel.
Während der Aufenthalt in Tomuraushi sich dem Ende neigt, versteht die Familie die vielen anderen Familien, die alle aus Großstädten herkamen und nach einem Jahr direkt verlängert haben – oder einfach komplett geblieben sind. Familie Miyashita sieht sich nun einer schweren Überlegung gegenübergestellt: noch ein Jahr verlängern, einfach ins neue Schuljahr starten oder schweren Herzens wieder zurück nach Fukui?
Fazit: Natsu Miyashita erzählt schnörkellos von ihrem neuen Leben auf dem Land und den sich daraus ergebenden Veränderungen für die ganze Familie. Die Erzählsprache ist klar und von Humor durchzogen, doch gelegentlich wirken ihre Episoden, die in Japan zuerst als Kolumne erschienen sind, etwas belanglos. Deshalb hat sich das zweite Drittel, als die Familie sich langsam in das Leben in Tomuraushi eingependelt hat, etwas gezogen. Trotzdem habe ich gern über das Leben der Fünf gelesen und freue mich auf den preisgekrönten Roman „The forest of wool and steel“ Miyashitas, der bereits in meinem Regal auf seinen Einsatz wartet und bei dem die Autorin ihre Erlebnisse auf dem Berg in einer fiktiven Geschichte verarbeitet.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom cass Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Natsu Miyashita / Der Spielplatz der Götter / Taschenbuch mit Schutzumschlag, 272 Seiten / ISBN: 978-3-944751-21-4 / Erschienen am 20.08.19 / zur Verlagsseite
Andere Meinungen:
Uh, das klingt wirklich gut. Würde eigentlich zu solcher Auswander-Lektüre greifen, aber hier reizt mich vor allem das Land :3