Ein kurzes, prägnantes Buch, das durch seine spezielle Art lange im Gedächtnis bleibt und sprachlich komplett überzeugt.
Karl-Georg Ammer, Mittdreißiger, promovierter Literaturwissenschaftler und Lektor eines renommierten Verlages, ist nicht unbedingt ein Kämpfer vor dem Herrn. Doch mit diesem Gegner nimmt er es spielend auf: einem unverlangt beim Verlag eingegangenen Manuskript, das es mit einem geschliffenen Gutachten aus seiner heilen Welt zu schaffen gilt. Doch so heil, wie sie ihm scheint, ist die Welt von Karl nicht, der im Frühling 1989 allein im Haus in den Auenwiesen an seiner Schreibmaschine sitzt, nichts ahnend von all den Geschehnissen um ihn herum, die geeignet sind, sein Leben aus den Fugen geraten lassen. Und der Erzähler – so allwissend wie hilflos – schaut Karl im selbstironischen Bewusstsein für die kleine Tragik des Helden über die Schulter und ins bange Herz.
Dieses kleine Büchlein habe ich vom Mitteldeutschen Verlag zugeschickt bekommen und dabei nicht geahnt, dass es sich hierbei um eines meiner frühen Highlights für 2020 handeln wird. Der Klappentext von Paul D. Bartschs „Das Wasser am Hals. Zwanzig Sätze über die Trägheit“ klingt vielleicht ein wenig handlungsarm, doch wer dieses Buch aufschlägt, weiß sofort, dass handlungsarm nicht auch gleich langweilig bedeutet. Und obwohl mich dieses relativ kurze Buch (160 Seiten) ziemlich gefesselt hat, war es mir nicht möglich, mehr als 10 bis 20 Seiten am Stück zu lesen. Das mag vor allem an der sehr speziellen Erzählweise liegen, wie ihr gleich erkennen werdet. Inhaltlich geht es um Karl, einen Lektor, der mehr schlecht als recht mit seiner Frau zusammenlebt – bzw. vielmehr vor sich hin lebt. Karl bemerkt all die Zeit nicht, dass seine Frau bereits seit längerem unzufrieden ist. Damit ist auch alles schon gesagt, was die Handlung betrifft – um mehr geht es nicht. Aber halt, „um mehr geht es nicht“ ist ein wenig gelogen, denn es geht um so einiges, was vielleicht nicht im Klappentext oder generell in der Handlung zu erkennen ist. Und was ich euch natürlich auch nicht vorweg nehmen möchte. In diesem Buch steht vielmehr die Erzählweise im Mittelpunkt, die den Rahmen um die kleine, aber besondere Geschichte Karls bildet.
Das Feuer im Ofen ist angebrannt und der Wind überm Haus sorgt für einen guten Zug. Da es aber noch einige Minuten bedarf, bis der Wärmespender seinem Ruf gerecht werden kann, entschließt sich Karl zu einem Tee. Er trinkt gerne den groben grusinischen Schwarztee aus der runden roten Blechbüchse, stark und süß, und da der nun auch noch seine Zeit ziehen muss, strapaziert Karl allmählich nicht nur die Geduld des Lesers, sondern auch die unsre gehörig!
Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist nämlich vielmehr der namenlosen Erzähler, der Karl scheinbar über die Schulter schaut, seine innersten Gedanken kennt, und auch die direkte Kommunikation mit dem Leser nicht scheut. Er selbst gibt natürlich keine Details von sich preis, jedoch besitzt er eine solche Präsenz, dass er sich selbst etwas aus dem Geschehen zurücknehmen muss, damit Karl ihn nicht bemerkt. Man könnte also meinen, unser Erzähler befände sich direkt im selben Raum mit Karl, etwa als ein wohlgesonnener Geist, eine versteckte Kamera oder ein imaginärer Freund. Diese Art der Erzählung mag ich ganz besonders: die, bei der uns ein omnipotenter, allwissender Erzähler jede kleinste Kleinigkeit detailversessen berichtet, kommentiert, analysiert und bewertet. Und ja, er scheint so einiges zu wissen, von dem der Protagonist, Karl, nichts ahnt.
Und so berichtet er uns brühwarm, dass bei Karl ein rosafarbenes Manuskript eingetroffen ist, dem er sich in seiner Tätigkeit als Lektor annehmen muss. Was ist mit diesem Manuskript auf sich hat, welche Geschichte ist erzählt, das erfährt der Leser im Verlaufe des Buches. Der Erzähler blickt Karl bei der Lektüre des Manuskripts ständig über die Schulter, verschafft dem Leser Einblick in das Geschriebene, zeigt Auszüge, schweift aber gerne auch ab, wenn Karl nicht zugange ist, und blättert im Manuskript, um uns seiner Meinung nach interessante Teilauszüge und Abschnitte zu präsentieren – die auch mal mitten im Satz aufhören können.
In seiner Kindheit war Karl-Georg lange Zeit davon ausgegangen, dass der Wechsel der Tage, der Wochen, Monate und damit auch der Jahreszeiten daran gebunden sei, dass er morgens in der Küche dass nunmehr veraltete gestrige Datums Blatt vom Wandkalender abriss. […] Dem kleinen Karl-Georg schien dadurch eine Macht verliehen, die Kinder normalerweise nicht besitzen: er war Herr über die Zeit geworden. Erst wenn das alte Kalenderblatt im Papierkorb gefallen war, so sagte er sich, konnte etwas Neues beginnen.
Während Karl sich also seiner Lektüre widmet – oder auch nicht, denn er scheint ein Meister der Prokrastination zu sein –, geht der Erzähler auf Wanderschaft, beschränkt sich nicht nur auf Karls Haus, sondern auch auf das schwiegerelterliche Heim, in dem sich seine Frau gerade aufhält. Wir lauschen Gesprächen, verfolgen das Geschehen, behalten jedoch Karl und das Manuskript im Fokus.
Fazit: Ich muss sagen, so unscheinbar das jetzt auch alles klingen mag, so wunderbar hat mir „Das Wasser am Hals“ gefallen. Der Untertitel „Zwanzig Sätze über die Trägheit“ geben perfekt das Geschehen wieder – nicht, dass die Figuren faul wären, nein, ihnen fallen Entscheidungen und unausweichliche Gespräche schwer, sie wissen nicht, wie sie sich mitteilen sollen. Der allwissende Erzähler hat mir die Geschichte, die ohne ihn vielleicht nicht so interessant gewesen wäre, ordentlich schmackhaft gemacht, auch wenn er mich stellenweise etwas verwirrt hat – etwa wenn er wie im ersten Zitat nicht nur sich selbst, sondern scheinbar noch andere neben dem Leser als Zuschauer von Karls Gebaren zählt. Aber abgesehen von diesen kleinen Momenten ist Bartschs Roman perfekt komponiert, erzählt eine tolle Geschichte und verdient wirklich etwas mehr Aufmerksamkeit!
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Mitteldeutschen Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Paul Bartsch / Das Wasser am Hals / Mitteldeutscher Verlag / Taschenbuch, 158 Seiten / ISBN: 978-3-96311-137-2 / Erschienen am 01.01.19 / zur Verlagsseite