Chinesische Science-Fiction, die leider viel zu viel versucht und dabei unterwegs den roten Faden verliert.
Auf der Siliziuminsel im Südwesten Chinas wird der Elektroschrott der ganzen Welt recycelt. Inmitten von giftigen Dämpfen und verseuchter Hardware suchen die Müllmenschen nach Verwertbarem. Als eines Tages ein amerikanisches Unternehmen die Siliziuminsel modernisieren will, wird das labile Gleichgewicht zwischen Behörden, mächtigen Mafiaclans und internationaler Machtpolitik gestört. Arme und Reiche, Chinesen und Ausländer finden sich in einem Krieg um die letzte Ressource der nahen Zukunft wieder – den Menschen.
Schon seit einer Weile nehme ich mir vor, doch öfter in chinesische Science-Fiction zu schauen – vor allem, da mich Cixin Lius Bücher doch bisher alle begeistern konnten. Und da hier vorn auf dem Buchcover ein dickes Zitat von ebendiesem prangt, machte mich Qiufan Chens „Die Siliziuminsel“ doch neugierig. Bei der Lektüre wurde mir dann aber schnell klar, dass eine Empfehlung und ein netter Klappentext leider noch kein gutes Buch ausmachen, und so war ich ziemlich enttäuscht. Dabei fing doch alles so gut an! Scott Brandle, CEO von Wealth Recycle, reist in unserer nicht allzu fernen Zukunft zur Siliziuminsel, um sein Unternehmen zu promoten und um die Chinesen zu überzeugen, dass er dort eine seiner Müllverwertungsanlagen bauen darf. Mit im Gepäck verschiedene Dolmetscher und Kaizong, der die Gelegenheit nutzt, um seinen Großvater zu besuchen, der auch auf der Siliziuminsel lebt. Die dort ansässigen Menschen leben im Schmutz, Industrieabfälle sind ihr Alltag, überall liegen bergweise „Ersatzteile“ jeglicher Art: Prothesen, Augmented-Reality-Brillen und Implantate. Die Kinder spielen mit dem, was sie finden, was nicht immer ungefährlich ist. Hunde sind gechippt, um jeden anzugreifen, der sich Privateigentum nähert und die Drogen werden nicht mehr durch die Vene, sondern durch den Anschluss des Virtual-Reality-Helms gejagt. Dort lösen die Drogen dann nostalgische Momente aus, Erinnerungen an Zeiten, in denen alles besser war, Szenen aus der Kindheit – und das genau so, als wäre man wieder vor Ort. Klar, dass das abhängig macht, wenn man quasi auf einer Müllkippe lebt.
Alles war in einen bleiernen Dunst gehüllt. Der weiße Dampf, der von dem erhitzten Königswasser in den Säurebädern aufstieg, vermischte sich mit der schwarzen Asche von dem PVC, dem Isolierdraht und den Leiterplatten, die ohne Unterlass auf den Feldern und an den Ufern des Flusses brannten. Die Brise, die vom Meer her kam, vermischte die beiden Kontrastfarben zu einem einheitlichen Grau und wehte sie unterschiedslos in die Poren eines jeden Lebewesens.
Während Scott mit den ansässigen Mafia-Clans über die Fabrik verhandelt, begegnet Kaizong der jungen Mimi – einem Müllmädchen. Sie arbeitet in einer der Müllsortierungsanlagen auf der Insel und hat noch nie das Festland gesehen. Schnell wird klar, dass es zwischen beiden funkt. Doch die große Love Story gibt es nicht, denn kurz darauf wird Mimi von einer Gruppe Männer brutal zusammengeschlagen und vergwaltigt. Sie überlebt gerade noch so – kurz vor ihrem Tod bemerkt sie, dass sie ihr Bewusstsein in einen riesigen Roboter in der Nähe verlagern kann. So vertreibt sie die Männer (den ein oder anderen Toten gibt es vielleicht auch) und kann sich selbst retten. Fortan ist Mimi in aller Munde, denn sie scheint etwas in sich zu haben, was um Vielfaches wertvoller ist als die Fabrik, die Scott zu errichten plant.
So spannend das auch alles jetzt klingen mag, so sehr verstrickt sich der Autor in seinen viel zu zahlreichen Plot-Elementen. Man weiß vor lauter Mafia, Gesprächen mit Informanten, Insiderinfos und den Sideplots nicht mehr, wo hinten und vorn ist – und worauf der Autor hinaus will. Nicht einmal zehn Seiten vorm Ende wusste ich, in welche Richtung sich diese Story entwickeln sollte. Und mitten in diesem Kuddelmuddel sind die vielen Charaktere, die alle mehr oder weniger lieblos gezeichnet, vielleicht höchstens skizziert sind, und ihre Backstorys. Zwischendurch gibt es dann immer mal wieder Einschübe zum Mikrokosmos „Siliziuminsel“ und zu technischen Entwicklungen – viele davon allerdings viel zu spät, sodass man erst im letzten Drittel des Romans Dinge über die Technologie erfährt, die eigentlich zu den Basic Informationen ganz am Anfang gehört hätten. Zudem wurde dann irgendwann bspw. von Körpermembranen gesprochen, aber ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was das nun ist und wann zur Hölle das eingeführt wurde. Und dabei würde ich nicht behaupten, dass ich unaufmerksam gelesen hätte, denn der Reichtum an Details zwingt dich dazu, wirklich. genau. zu. lesen.
Diese Insel ist nicht mehr zu retten. Die Luft, das Wasser, der Boden und die Menschen, alles ist schon zu lange im Müll versunken. Manchmal können wir gar nicht mehr unterscheiden, was Müll ist und was nicht. Wir leben vom Müll. So versuchen wir uns durchs Leben zu schlagen […], aber je mehr Geld wir verdienen, desto schlimmer steht es um unsere Umwelt.
Fazit: Tja, ich weiß leider wirklich nicht, was ich von Qiufan Chens „Siliziuminsel“ halten soll. Von oben betrachtet ist das eine spannende Geschichte, die ich mir sehr gut als Film oder Serie vorstellen könnte, die aber für meinen Geschmack zu chaotisch war. Dass es keine stringente Handlung gab, die irgendeinem Ziel gefolgt wäre, hat es für mich noch schwerer gemacht, dem Ganzen zu folgen. Schade, denn das grundlegende Konzept und die Idee, über eine Müllinsel und ihre Bewohner zu schreiben, finde ich verdammt spannend. Die Situation mit diesem Buch erinnert mich stark an „Altered Carbon“, welches ich nach ungefähr der Hälfte abbrechen musste – aus ähnlichen Gründen – was ich aber als Serie extrem gefeiert habe. Deshalb: Daumen drücken!
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Heyne Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Qiufan Chen / Die Siliziuminsel / Heyne Verlag / Taschenbuch, 480 Seiten / ISBN: 978-3-453-31922-6 / Erschienen am 09.09.19 / zur Verlagsseite
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