Ein unaufgeregtes Buch über das Leben und Sterben Gustav Mahlers, das stark geprägt ist von Seethalers Handschrift.
An Deck eines Schiffes auf dem Weg von New York nach Europa sitzt Gustav Mahler. Er ist berühmt, der größte Musiker der Welt, doch sein Körper schmerzt, hat immer schon geschmerzt. Während ihn der Schiffsjunge sanft, aber resolut umsorgt, denkt er zurück an die letzten Jahre, die Sommer in den Bergen, den Tod seiner Tochter Maria, die er manchmal noch zu sehen meint. An Anna, die andere Tochter, die gerade unten beim Frühstück sitzt, und an Alma, die Liebe seines Lebens, die ihn verrückt macht und die er längst verloren hat. Es ist seine letzte Reise.
Seine letzten beiden Romane, „Das Feld“ und „Ein ganzes Leben“, habe ich sehr genossen, und deshalb kam ich nicht umhin, Robert Seethalers neuestes Werk „Der letzte Satz“ ebenfalls zu lesen. Oder vielmehr zu verschlingen, denn das schmale Bändchen birgt lediglich knapp 130 Seiten zwischen seinen Buchdeckeln. Genau wie in Seethalers „Feld“ geht es hier um das Leben und Sterben, um den Rückblick auf das eigene Leben. Doch anstelle von Menschen wie du und ich widmet sich der Autor diesmal einer bekannten Persönlichkeit: Gustav Mahler. Dieser revolutionierte Ende des 19. Jahrhunderts die damalige Musikwelt mit seinen Kompostitionen. Ich muss gestehen, bewusst hatte ich noch nichts von Mahler gehört – dennoch war meine Neugier auf dieses Buch geweckt, denn ich liebe Robert Seethalers schöne, verträumte Erzählsprache und seine Art, wie er das alltägliche Leben portraitiert. Und genau in dieses Raster fällt auch „Der letzte Satz“. Und genau deshalb habe ich das Buch auch gerne gelesen. Gustav Mahler wird, wie im Feuilleton stark kritisiert, als ganz normaler Mensch dargestellt, der seine Stärken und Schwächen hat, seine Frau aufgrund seiner Leidenschaft zu seiner Arbeit vernachlässt, und der den frühen Tod einer seiner Töchter immer noch nicht überwunden hat. Nebenher komponiert er Opern, die ihn weltberühmt machen. Auf seiner letzten Schriffsreise, sich seiner schwindenen Gesundheit bewusst, grübelt er nun über sein Leben nach. Was hätte er anders, was besser machen können und sollen? Gedanken, die wohl jeder von uns bereits einmal gedacht hat. Und anstatt vergangene große Persönlichkeiten zu romantisieren, gefällt mir Seethalers Entscheidung, diese Geschichte genau so zu erzählen.
Die Sonne stand jetzt hoch, und die Helligkeit des Himmels schmerzte in seinen Augen. Auf der Reling, in etwa zehn Metern Entfernung, hockte ein großer weißer Vogel. Sein Schwanz war lang und breitete sich auf dem Deck aus wie ein Hochzeitsschleier. Als er die Flügel hob und lautlos wie ein Schatten verschwand, gab es einen Ruck in Mahlers Brust, und er stöhnte leise auf. Er hatte geschlafen, und er wusste, es war die Angst.
In diesem Roman erhalten Unwissende wie ich einen genauen Blick auf oder vielmehr Einblick in Mahlers Leben. Was ich vor der Lektüre bei Wikipedia überflogen hatte, wurde hier zum Leben erweckt. Wer sich bereits vorher mit Mahler befasst hat, wird sich bestens zurechtfinden – weiß aber leider auch schon genau, was passieren wird. Manchmal ist es also doch noch zu etwas nütze, ohne Vorkenntnisse ans Werk zu gehen! Seethalers bekannter Schreibstil trägt enorm dazu bei, dass man sich im „letzten Satz“ verlieren kann – und das erprobtermaßen am besten, wenn man sich bei der Lektüre Mahlers schönste Werke zu Ohren gibt. Den einzigen Kritikpunkt, den ich nennen kann, ist die Länge des Buchs, bzw. seine Kürze. Durch diese wird die Gedankenflut Mahlers natürlich stark geschröpft, was das Geschehen doch ein wenig emotionsärmer gestaltete, als ich eigentlich erwartet hatte, weshalb es für mich auf der Rangliste leider hinter seinen letzten beiden Büchern steht. Dennoch kann ich Seethalers neues Werk weiterempfehlen, denn seine Bücher zu lesen, bedeutet für mich immer, abzutauchen, und das tut aktuell doch ganz gut, möchte ich behaupten.
Glauben war in Wahrheit Wissen. Heute wusste er nichts mehr. Das Einzige, worauf er sich in gewisser Weise immer verlassen konnte, war sein Körper beziehungsweise dessen Zerfall. […] Er hätte es aufschreiben sollen. Er hätte die Harmonien seines Körpers komponieren sollen. Und noch viel mehr die Disharmonien. Zu spät.
Weitere Meinungen zum Buch: Fräulein Julia | Schreiblust Leselust | Literaturcafé
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Hanser Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Robert Seethaler / Der letzte Satz / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 128 Seiten / ISBN: 978-3-446-26788-6 / Erschienen am 03.08.20 / zur Verlagsseite