Einsamkeit und Trauer – eine alte Frau blickt auf ihr Leben voller Zwänge und Rollenbilder zurück.
Mit 24 ging Momoko in die große Stadt, nach Tokio, um die Zwänge der Provinz hinter sich zu lassen, um frei zu sein. Sie war sich für keine Arbeit zu schade, schuftete, passte sich an, gab sich, wie man es von ihr erwartete: folgsam, freundlich, auf Harmonie bedacht. Und schlug so unversehens den Weg ein, den die Gesellschaft ihr vorgab: Mann, Kinder, ein schönes Zuhause. Jetzt, mit 74, ihr Mann ist tot, die Kinder sind längst aus dem Haus, denkt Momoko nach. Über die Träume, die sie einst hatte. Über die Liebe. Über Einsamkeit. Über das Altern und den Tod. Und nach fünfzig Jahren Leben mit der Hochsprache kommt mit Macht wieder, was die junge Momoko in Tokio immer für ein Stigma hielt: ihr Dialekt. Ihre Heimat.
Lange hat mich kein Buch so gefordert wie Chisako Wakatakes „Jeder geht für sich allein“ – und das nicht inhaltlich, sondern sprachlich! Denn da die Autorin im Original einen regionalen Dialekt des Japanischen verwendet, wurde für die deutsche Übersetzung ebenfalls eine Dialektlösung gesucht. Und so wechselt sich das Hochdeutsche mit dem Vogtländischen (ein Zweig des Sächsischen) ab, was den Lesefluss (sofern man des Dialekts nicht mächtig ist) stark verlangsamt und den Leser so zum Innehalten zwingt. Ich musste mir diese Passagen immer laut vorlesen – sehr zum Spaß der Katze. Und so habe ich dann doch längere Zeit an der Lektüre gesessen – was aber dem Verständnis von den vielfältigen Themen, die angesprochen werden, zu Gute kam. Denn es geht nicht nur um das Älterwerden, sondern auch um Heimat, um Famile und den persönlichen Sinn. Momoko, unsere Protagonistin, hat diesen Sinn für sehr lange Zeit in ihrer Familie gesehen, doch als die Kinder aus dem Haus und längst entfremdet sind und der Mann schließlich stirbt, ist sie zum Innehalten gezwungen (ebenso wie der Leser) und lässt ihr Leben Revue passieren. Und so erfahren wir von ihrer Kindheit, dem Aufwachsen in einem kleinen Dorf und dem Umzug in die Metropole Tokio, als sie älter wurde. Wie sie ihren Mann kennenlernte, mit dem sie ihr Dialekt einte. Und nun, allein im viel zu großen Haus, in Gesellschaft von Mäusen, beginnt Momoko, Stimmen in ihrem Kopf zu hören – Stimmen, die sich in ihrem Heimatdialekt unterhalten.
[…] der Dialekt ist die älteste Schicht meiner selbst. Er ist so etwas wie ein Strohhalm, mit dem sich die älteste Schicht hochholen lässt.
Und dieser Dialekt in ihrem Kopf, in dem Stimmengewirr, bringt Momoko zurück zu ihrem ersten Schultag, als sie sich diesem zum ersten Mal wirklich bewusst wird. Der Dialekt ist dort negativ konnotiert, wer schlau ist und später nach Tokio will, benutzt Hochjapanisch. Doch Momoko fühlt sich dabei, als würde sie eine Maske tragen, als träte sie ihre Herkunft mit Füßen. Von da an macht sich eine Unruhe und Angst in ihr breit, und sie bleibt immer öfter still. Erst, als sie Shuzo kennenlernt, kann sie alle Gedanken frei heraus lassen, bleibt sprachlich frei, wird jedoch bald bereits in das Korsett der Erwartungen gesteckt, was eine gute japanische Hausfrau ausmacht. Und so schweigt sie erneut – als ihr Mann tagelang fortbleibt und sich eine trübe Atmosphäre in der Ehe breitmacht. Doch Shuzo bleibt die Liebe ihres Lebens und als er stirbt, bricht für sie eine Welt zusammen – bevor sich eine neue, unabhängige auftut.
S dsorrubbfd morr’s Harrds is Harrds s dsorrubbfd morr’s Harrds s dsorrubbfd morr’s Harrds.
In der Gegenwart ist Momoko eine stoische, sture alte Frau geworden, die ihrer Tochter mit ihren „Wehwehchen“ nicht auf die Nerven gehen will und auch unter Schmerzen zum Grab ihres Mannes pilgert. Hinter der Maske aus Sturheit versteckt sich jedoch eine sehr einsame Dame, die gerne öfters von ihren Töchtern und Enkelkindern besucht werden möchte. Und so schmerzt das Buch auf vielerlei Arten und man verlässt „Jeder geht für sich allein“ in einer melancholischen, merkwürdigen Stimmung, die aber auch ein wenig hoffnungsvoll ist.
Fazit: Chisako Wakatake hat mit ihrem Debütroman völlig zu Recht den Akutagawa-Preis abgeräumt, denn dieses Buch ist eine richtige Perle. Ich bin sehr froh, dass ich mich nicht von dem Dialekt habe abschrecken lassen und das Buch nach einer Lesepause von ein paar Wochen nicht abgebrochen habe. Wer einen Einblick in das Dialektische dieses Romans gewinnen möchte, kann hier einen Auszug hören. Den Trailer zum Film gibts hier.
Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom cass Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Chisako Wakatake / Jeder geht für sich allein / cass Verlag / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 109 Seiten / ISBN: 978-3-944751-25-2 / Erschienen am 15.02.21 / zur Verlagsseite
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