Tolles Emotionskino, das nicht nach Gefühlen heischt, sondern durch Ehrlichkeit und Realität überzeugt.
„Ich will nicht sterben. Ist das schlimm?“ „Nein, Frau Stark. So schlimm kann es gar nicht sein.“, sagte meine Mutter. „Vielleicht ist es sogar schön. Schließlich ist noch keiner von dort zurückgekommen.“
Titel: Vielleicht ist es sogar schön
Autor: Jakob Hein
Verlag: PIPER
Klappentext: „Meine Mutter war vierundfünfzig Jahre alt, als sie eines Tages unerwartet anrief und bat, noch an diesem Abend vorbeizukommen.“ So beginnt Jakob Heins kurze Geschichte seiner Familie. Sie beginnt mit einem Ende. Denn das, was die Mutter seinem Bruder und ihm anzukündigen hat und nicht am Telefon geschehen kann, ist die Nachricht von ihrer tödlichen Erkrankung. Aber natürlich ist das nicht das Ende, kann es nicht sein. Man darf nur die Kontrolle nicht verlieren. Und deshalb fängt Jakob Hein an sich zu erinnern: an die gemeinsamen Schreibnachmittage mit der ganzen Familie, die plötzlich so lange zurückzuliegen scheinen; an die jüdische Gemeinde in Ostberlin, die wie ein kleines Holzfloß war, das steuerlos auf dem Meer trieb; an den kommunistischen Großvater, dem einzig Stalin am Herzen gelegen hatte. Nichts spricht doch dafür, sagt Jakob Hein sich, dass die Mutter ausgerechnet jetzt sterben wird. (zur Verlagsseite)
Von letzten Worten, einem letzten wichtigen Gespräch habe ich nie geträumt. Hätte ich in diesen Tagen in Ruhe nachdenken können und einen einzigen mir wichtigen Satz sagen dürfen, wäre mir nur der folgende eingefallen: „Stirb nicht, es ist doch viel zu früh.“
Dieses Buch hat mich weinend und mit Herzklopfen zurück gelassen. Krebs ist in meiner Familie ein Thema, schon drei Familienmitglieder hat er sich genommen, vor fast einem Jahr erst meinen Vater. Trotzdem oder gerade deshalb lese ich ab und zu ein „Krebsbuch“. In diesem Buch geht es um den Brustkrebs von Jakob Heins Mutter, aber nicht allein um ihn, nein, er wird sogar erzählerisch ziemlich zurückgestellt. Es geht um den zweiten Weltkrieg, seinen jüdischen Großvater, Jakobs Versuch, sich selbst in eine jüdische Gruppe zu integrieren, und um die erlebten Momente mit seiner Mutter. In kleinen Episoden arbeitet Hein seine Vergangenheit auf. In der Gegenwart geben Alltäglichkeiten Anstoß zu Gedankengängen, die sogleich trivial als auch einleuchtend sind, weil man selbst über diese gewissen Dinge (bisher) nie besonders nachgedacht hat.
Der erste Schritt ist immer der schwerste. Warum traue ich mich überhaupt, über eine Straße zu gehen, den scheinbar sicheren Bordstein zu verlassen? Wie kann ich auf eine Fahrbahn treten, über die mir vollkommen unbekannte Menschen in tonnenschweren Metallgehäusen hinweg schießen? Menschen mit abwesendem Gesichtsausdruck, denen ich nicht einmal für einen kurzen Moment meinen Schlüssel anvertrauen würde, und doch trete ich auf die Straße und vertraue ihnen mein Leben an.
Teilweise beinhalten die Kapitel Fragmente aus der Gegenwart, die den Verlauf der Krankheit von Jakobs Mutter wiedergeben, manchmal werden aber auch Dinge aus der Vergangenheit erzählt, beispielsweise Jakobs Zeit in Amerika und die jüdischen Gemeinschaften dort. Ein starkes Thema ist auch der zweite Weltkrieg, Hein erzählt von seinen Großeltern und der Kindheit seiner Mutter. Ich fand die Sprache und die Erzählweise sehr angenehm, sodass ich das Buch direkt in einer Sitzung verschlungen habe. Hein erzählt, wie er mit den Gedanken daran klarkommt, dass seine Mutter erneut an Krebs erkrankt ist, was sehr inspirierend ist. Teilweise musste ich echt schlucken bei den Schilderungen, weil ich es leider genau so mitansehen musste. Am Ende schiebt Hein noch eine Kindheits-Erinnerung ein, die mich dann richtig zum Weinen gebracht hat.
Mein Fazit: Ein kurzes Büchlein über die Kindheit in Ostdeutschland, Krebs, Krieg und die Zugehörigkeit in einer Gemeinschaft. Der Schreibstil war eine wahre Freude, es hat sich sehr gut gelesen. Jakob Hein berührt, bewegt, regt zum Grübeln an, und das alles auf kurzen 160 Seiten.
Von ihrer Geburt an war meine Mutter zu jüdisch. Ihre Eltern waren zu jüdisch gewesen, um in Deutschland heiraten zu dürfen. Ihr Vater war zu jüdisch gewesen, um leben zu dürfen. Meine Mutter war […] zu jüdisch, um eine Verwandtschaft zu haben. […] Jüdisch genug für ihre schwere Krankheit. Aber nach ihrem Tod war sie nicht jüdisch genug für den jüdischen Friedhof in Berlin.
Jakob Hein, "Vielleicht ist es sogar schön", Piper Verlag, ISBN: 9783492273640. Zitate: S. 50, 155, 10, 153.