Heute habe ich ein paar kleine Leckerbissen für euch, bei denen für jeden Geschmack etwas dabei sein dürfte: Kryogenik als Zukunftsmodell, eine Novelle über Tyrannei und die Auslöschung der Geschichte und last but not least die Suche eines kleinen Mädchens nach ihrem Vater, der mit ihrer Mutter als Bootsflüchtling in die Niederlanden gekommen ist, sich aber aus dem Staub gemacht hat.
Hendrik Otremba, „Kachelbads Erbe“
Los Angeles, Mitte der 1980er Jahre. Der deutsche Auswanderer H.G. Kachelbad friert für das kryonische Unternehmen Exit U.S. Menschen ein, die in ihrer Gegenwart nicht mehr leben können. Bald scharen sich ein abgehalftertes Schriftstellergenie, eine ukrainische Wissenschaftlerin, ein vietnamesischer Auftragskiller und andere skurrile Gestalten um Kachelbad. So unterschiedlich ihre Motivationen auch sind, alle »kalten Mieter« hegen die Hoffnung, eines Tages wieder auf getaut werden zu können. Vom jüdischen Wien der Jahrhundertwende bis ins schwule New York der frühen 1980er Jahre nimmt uns »Kachelbads Erbe« mit auf eine Reise in die Vergangenheit, um über die Zukunft nachzudenken.
Ein wunderbares Buch, das mich über einen langen Zeitraum täglich begleitet hat. Zu sehr wollte ich die verworrene Geschichte auskosten, als dass ich mich getraut hätte, zu viele Seiten auf einmal zu lesen. Was Hendrick Otremba hier schafft, sprengt alle Genre-Grenzen und lässt sich nur schwer in Worte fassen. Die Geschichte um Kachelbad und sein Kryogenik-Unternehmen bildet dabei nur die Rahmenhandlung des Buches – jede einzelne Figur, besonders aber die Eingefrorenen, spielen eine Rolle. Jede einzelne erhält eine Lebensgeschichte, einen Hintergrund. Mystische Momente, Rätsel und gar Zeitreisen sind ebenfalls Themen vom Otrembas Epos „Kachelbads Erbe“. Ich habe zahlreiche Eselsohren gefaltet, weil die Erzählsprache einfach wunderbar ist und von Feingeist zeugt, sodass man eigentlich alles anstreichen möchte, so schön liest es sich. Wer bereit ist für ein verrücktes Abenteuer, bei dem nicht immer alles rational erklärbar ist, sollte sich „Kachelbads Erbe“ unbedingt genauer anschauen.
Hendrick Otremba / Kachelbads Erbe / Hoffmann und Campe Verlag / Gebundenes Buch, 430 Seiten / ISBN: 978-3-455-00618-6 / Erschienen am 05.08.19 / zur Verlagsseite
Ma Jian, „Traum von China“
Einen höheren chinesischen Provinzbeamten verfolgen immer häufiger Albträume aus seiner gewalttätigen Vergangenheit in Zeiten der Kulturrevolution. Dabei hat er eigentlich, im Sinne von Xi Jinpings Ideen von einer „verjüngten Gesellschaft“, den Auftrag, die Vergangenheit ruhen zu lassen und ein neues China zu erschaffen. Aber er kann nicht vergessen, dass er seine eigenen Eltern verraten hat…
Ma Daode ist Direktor eines ganz neuen Amts, das mit einem tollen Projekt das Glück aller Bewohner Chinas sichern soll: dem „Traum von China“. Er soll einen kollektiven Traum in die Köpfe der Chinesen einpflanzen, der Erinnerungen an die nicht so schöne Vergangenheit Chinas, Kriege und Ungerechtigkeiten einfach wegdezimiert und Präsident Xi Jinping als Wohltäter des Landes darstellt. Das Gefühl, dass Autor Ma Jian sich mit seinem Roman nicht auf völlig fremden Terrain bewegt, schleicht sich bereits nach einigen Seiten ein und die heftige Kritik und der Faustschlag ins Gesicht der chinesischen Regierung tritt überdeutlich zuvor. Während unser Protagonist sich anfangs noch sehr gegen seine Albträume sträubt und sich von diesen stark verunsichern lässt, da diese zeigen, auf welchem Weg er sich wieder befindet, legt er diese Gefühle nach und nach ab und agiert nur noch auf Begehren des Staates. Spannend und sehr anders geschrieben, als vieles, was ich von chinesischen Autoren kenne, kann ich diesen Roman jedem empfehlen, der offen für eine bitterböse Gesellschaftskritik ist.
Ma Jian / Traum von China / Rowohlt Verlag / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 192 Seiten / ISBN: 978-3-498-00107-0 / Erschienen am 20.08.19 / zur Verlagsseite
Nhung Dam, „Tausend Väter“
Als Tochter von Bootsflüchtlingen ist sie in einem unbekannten und eiskalten Land abgesetzt worden. Die elfjährige Nhung hat sich noch nicht daran gewöhnt, da ist ihr Vater schon wieder auf der Flucht. Das Mädchen steckt fest zwischen ihrer verzweifelten Mutter und dem Aberwitz des fremden Lebens. Das Einzige, was sie in dieser Welt voller Huren, Zahnpastaverkäufern und Spielsüchtigen hat, ist ihre blühende Fantasie. Sie glaubt sich auf dem Meeresgrund, umschlungen von Algen und unfähig, aufzutauchen. Und was soll sie auch an der Oberfläche? Seit ihr Vater verschwunden ist, liegt dauerhaft Schnee und die anhaltende Kälte drückt wie Eis auf die Herzen der Menschen. Nhung sucht nach Rettung und fragt sich, was es heißt, ein Vater zu sein.
Nhung, Tochter vietnamesischer Bootsflüchtlinge, ist in ihrem jungen Alter sehr allein. Ihr Vater ist, seit sie ein Baby war, verschwunden und hat – wo immer er auch ist – dort eine neue Familie gegründet. Das schreibt er zumindest in seinem einzigen Brief an seine Erstgeborene, die sich darauf noch keinen richtigen Reim machen kann. Ihre Mutter fühlt sich hilflos und zurückgelassen; ihr Zustand verschlimmert sich nach und nach, bis sie in eine psychiatrische Einrichtung kommt. Nhung lebt also alleine in dem kleinen Haus, das sie bis vor kurzem noch mit ihrer Mutter geteilt hat. Sie versucht, dieses gegenüber der chinesischen Mafia und der sehr hartnäckigen, angeblichen Grundstücksbesitzerin zu verteidigen. Parallel dazu sucht sie außerdem noch nach ihrem Vater. Da das Dörfchen Beiahêm, in dem sie lebt, aufgrund des alles auffressenden Meeres immer weiter schrumpft und alle um ihren Grundbesitz kämpfen, wird Nhungs Lage immer misslicher und sie wünscht sich nichts lieber. als einfach abzuhauen und alles hinter sich zu lassen. In kindlicher, unschuldiger Sprache erzählt Nhung Dam, wie es ist, völlig entwurzelt aufzuwachsen und dabei auch immer die eigene Existenz verteidigen zu müssen. Die Kindheit in feindlich gesinnter Umgebung mischt die Autorin mit märchenhaften Einschüben, was die Lektüre von „Tausend Väter“ zu etwas ganz Besonderem macht.
Nhung Dam / Tausend Väter / Ullstein Verlag / Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 400 Seiten / ISBN: 978-3-550-05035-0 / Erschienen am 30.08.19 / zur Verlagsseite
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